Ende der Kreidezeit. Niki Glattauer

Ende der Kreidezeit - Niki Glattauer


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       NIKI GLATTAUER

       Ende der Kreidezeit

      Ein bisschen Schule –

      und der irre Rest des Lebens

      Mit 15 Bildern von

      Verena Hochleitner

      Inhalt

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       Kapitel 5

       Kapitel 6

       Kapitel 7

       Kapitel 8

       Kapitel 9

       Kapitel 10

       Kapitel 11

       Kapitel 12

       Kapitel 13

       Kapitel 14

       Kapitel 15

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      In einem Bezirk am südöstlichen Rand der großen Stadt wohnte die Lehrerin Reingard Söllner, 48. Als sie jung war, war sie sehr gern Lehrerin und liebte alle ihre Schüler, sogar die schlimmen und schlechten. Inzwischen war sie hundert Jahre Lehrerin und manchmal liebte sie ihre Schüler immer noch, sogar die schlimmen und schlechten, auch wenn sie diese nun verhaltenskreativ und bildungsfern nennen musste. Diesen buk sie Schokoladekuchen oder adoptierte sie, wenn sie keine Eltern hatten oder Eltern, die nur so hießen.

      Aber manchmal hasste sie ihre Schüler, und sie packte sie schon im Treppenhaus der denkmalgeschützten Schule am nordwestlichen Rand der großen Stadt mit ihren vom häufigen Gebrauch der Tafelkreide bleichen, ausgetrockneten Händen an ihren Plastikjackenkrägen, an ihren Armen und Beinen und manchmal auch an ihren tief über den Arsch heruntergezogenen Jogginghosen oder an den Fake-Etiketten ihrer 7-Euro-T-Shirts und schwang sie über ihrem Kopf so lange und so heftig im Kreis, bis sie aufhörten zu quietschen und zu gackern und zu brüllen und zu raufen, und dann schleuderte sie einen nach dem anderen aus den Gangfenstern im ersten Stock der denkmalgeschützten Schule oder aus jenen im zweiten Stock und manchmal sogar aus jenen im dritten, und wenn es Mädchen waren, eine nach der anderen.

      Doch während die letzte Schülerin noch zu Boden fiel, mit vor geheuchelter Angst weit geöffneten Augen und im Licht der Morgensonne pink fluoreszierendem Nasenpiercing, standen unten im Schulhof die ersten bereits wieder auf und kamen die Stiegen hochgelaufen und quietschten und gackerten und brüllten und rauften, stießen einander um, trampelten einander nieder, stiegen übereinander hinweg, eilten weiter hoch, Treppe um Treppe, verteilten sich in den Stockwerken, bis sie wieder in Dutzenden Klassen auf Hunderten Sesselchen an Hunderten Tischchen saßen, an deren Unter- und Innenseiten die Reste von Millionen Kaugummis klebten, früher Erdbeergeschmack, früher Zitronengeschmack, früher Wassermelonengeschmack, jetzt versteinert, vermutlich geschmacklos.

      —Guten Morgen, Frau Lehrerin!

      —Guten Morgen, Jacqueline!

      —Guten Morgen, Frau Lehrerin!

      —Guten Morgen, Patrick!

      —Guten Morgen, Frau Lehrerin!

      —Guten Morgen, Ahmet!

      —Guten Morgen, Frau Lehrerin!

      —Guten Morgen, Milad!

      —Guten Morgen, Frau Lehrerin!

      —Guten Morgen, Snezana!

      —Guten Morgen, Frau Lehrerin!

      —Guten Morgen, wer bist denn du?

      —Ich bin Ayse.

      —Du hast ja plötzlich blonde Haare, Ayse.

      —Ja, ich habe meine Haare gefärbt.

      —Und dein Kopftuch?

      —Ich trage es nicht mehr.

      —Warum hast du deine schwarzen Haare blond gefärbt und trägst dein Kopftuch nicht mehr?

      —Ich hatte nicht nur ein Kopftuch, Frau Lehrerin, ich hatte siebzehn verschiedene Kopftücher.

      —Warum also hast du deine schwarzen Haare blond gefärbt und trägst keines deiner siebzehn verschiedenen Kopftücher mehr?

      —Ich muss meinen Weg suchen, wenn ich hier leben will, Frau Lehrerin.

      —Wer hat gesagt, dass du deinen Weg suchen musst, wenn du hier leben willst?

      —Mein Vater hat das gesagt.

      —Hat er auch gesagt, dass du dafür deine schwarzen Haare blond färben und keines deiner siebzehn Kopftücher mehr tragen sollst?

      —Nein, Frau Lehrerin, das hat der Mann vom Arbeitsamt gesagt, als ich meinen Vater begleitet habe, damit er den Mann vom Arbeitsamt versteht. Er hat gesagt, man kann nicht früh genug damit beginnen, seinen Weg zu suchen. Er hat gesagt, es gibt steinige und weniger steinige Wege. Er hat gesagt, schwarze Haare und Kopftuch sind ein steiniger Weg, wenn man hier leben will.

      Auch Reingard Söllner dachte manchmal über richtige und falsche Wege nach. Manchmal bestand sie darauf, auf dem richtigen Weg zu sein, meistens dann, wenn sie auf dem falschen Weg war, aber das wusste sie in diesen Momenten nicht. Sie dachte, ich bin auf dem richtigen Weg, und blickte trotzig zu Boden, um die Warnschilder in ihrem Kopf nicht sehen zu müssen: Sackgasse, Einbahn, Fahrverbot, so was. Auch ihren inneren Stimmen verbot sie zu sprechen, wenn sie darauf bestand, sich auf dem richtigen Weg zu befinden. Nicht jetzt, innere Stimme!, herrschte sie dann ihre inneren Stimmen an, immer in Einzahl und Mehrzahl gleichzeitig: Seid jetzt gefälligst still, innere Stimme!

      Wenn sich Reingard Söllner auf dem richtigen Weg befand, dachte sie nicht, ich bin auf dem richtigen Weg, da ging sie einfach dahin und dachte gar nichts oder dachte nur: Was koche ich heute? Habe ich die Fernsehzeitung, die ich seit 7 Monaten abbestellen will, schon abbestellt? Wo habe ich bloß die bunte Tafelkreide hingetan?

      Am wohlsten fühlte sich Reingard Söllner, wenn sie auf gar keinem Weg war. Dann ruhte sie sich aus. Manchmal tagelang, und ihre beiden Kinder dachten schon, sie sei tot. Wenn sie auf gar keinem Weg war, befand sie sich meistens auf einem Platz, oder sie saß in einem Park oder auf einer Wiese. Oder sie lag auf einer lindgrünen Liege in einem Thermenhotel. Oder auf einem knallgelben Badetuch am Chai-Chet-Beach in Thailand. Wenn sie selbst auf gar keinem Weg war, war sie auch für andere Menschen da, die auf ihren richtigen oder falschen Wegen kamen und gingen.

      —Guten


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