Ende der Kreidezeit. Niki Glattauer

Ende der Kreidezeit - Niki Glattauer


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Frau Söllner, gern nehme ich die Extrawurstsemmel, während ich meinen Weg suche, obwohl ich gestern noch Veganer war und mich nur von roten Bio-Apfelkuchenschnitten ohne tierische Fette ernährt habe.

      —Guten Tag, kleines Mathematik-Genie, wie ich sehe, machst du dich auf einen weiten Weg. Darf ich dir ein Buch mit den Vollständigkeits- und Unvollständigkeitssätzen nach Kurt Gödel mitgeben, damit du unterwegs rechnen kannst? Aber warum, wenn ich fragen darf, machst du dich auf den Weg, wo doch hier die prächtigste Mathematik gedeiht?

      —Meine Eltern sagten, ich solle meinen Weg suchen. Oder sagten sie, ich solle meinen Weg machen? Ich glaube, es war, ich solle erst mal meinen Weg suchen, dann würde ich bestimmt meinen Weg machen. Sie rieten mir, nach Frankfurt am Main zu gehen, wo Goethe geboren wurde, und dann nach Stratford-upon-Avon, wo Shakespeare geboren wurde, und wenn mir dann noch Zeit bliebe, nach Turin, wo der große Alessandro Baricco lebt, der den Literaturnobelpreis bis jetzt nur irrtümlich nicht erhalten habe. Als ich sagte, gut, dann gehe ich mal los und beschäftige mich mit Goethe statt mit Gödel, waren sie sehr stolz auf mich.

      —Heißt du Marie, kleines Mathematik-Genie?

      —Ja, so heiße ich. Warum?

      —Meine Tochter heißt auch Marie. Aber sie ist kein Mathematik-Genie.

      —Macht es Sie traurig, dass sie kein Mathematik-Genie ist, vielleicht gar kein Genie?

      —Nein, das macht mich fröhlich, denn Genies müssen immer genial sein. Das ist schwer durchzuhalten, siehe Maryam Mirzakhani.

      —Wer ist Maryam Mirzakhani?

      —Maryam Mirzakhani war ein Mathematik-Genie. Jetzt ist sie tot. Krebs.

      —Krebs?

      —Ja, Krebs.

      Einmal merkte die Lehrerin Reingard Söllner, dass sie auf dem falschen Weg war, da ging es um ihren zweiten früheren Ehemann. Die Warnzeichen in ihrem Kopf waren in immer kürzeren Abständen gekommen: Sackgasse. Einbahn. Kreisverkehr. Seid jetzt still, innere Stimme!, hatte sie ihre inneren Stimmen angeherrscht. Aber weil sie doch merkte, dass sie sich auf dem falschen Weg befand, packte sie den Weg und schlug vor Wut so lange auf ihn ein, bis ihre Finger blutig waren. Dem Weg war es egal, er tat gar nichts. Also riss ihn die Lehrerin Reingard Söllner der Länge nach aus dem Boden und schleuderte ihn aus dem Erkerfenster der Villenetage, die ihr erster früherer Mann geerbt und ihr vorübergehend überlassen hatte. Sie spuckte noch dreimal nach. Du dummer, blöder, falscher Weg!, rief sie dem fallenden Weg hinterher, warum führst du mich immer zu den falschen Männern? Ich bekoche sie, beschmuse sie, bemuttere sie, verpflege sie, halte sie bei Laune. 7000 Mal habe ich Kaffeetassen und Biergläser für sie in den Geschirrspüler geräumt, 700 Mal die Unterhosen für sie ausgesucht, 77 Mal die Koffer für sie gepackt, wenn sie auf Dienstreise fahren mussten, 777 Mal ihre abgeschnittenen Fingernägel vom Boden gesammelt und 17.000 Mal ihre frisch gewaschenen Socken aus der Waschtrommel gezupft plus den einen, den ich nach dem Ausräumen das letzte Mal übersehen hatte.

      —Mir fehlt schon wieder zu der einen Socke die andere Socke.

      —Ich hab sie nicht gegessen, Schatz.

      —Sehr witzig.

      —Meinst du?

      Warum also, blöder, falscher Weg, führst du mich immer zu Männern, die mit den Jahren zu meinen Söhnen werden? Aber der Weg gab keine Antwort. Sie ließ ihn liegen und schaute sich nach einem neuen um. Der, den sie fand, führte sie geradewegs zum nächsten Mann, mit dem es eines Tages wieder so kam wie mit den Männern davor, nur hatte sie diesmal zwei Kinder. „Es tut mir leid, aber mit uns beiden geht es nicht mehr weiter, Schatz“, sagte Reingard Söllner eines Morgens zu ihrem zweiten Mann, nachdem sie eine ganze Nacht darüber nachgedacht hatte, welche Formulierung sie nach es tut mir leid gebrauchen sollte.

      —Muss es für dich wirklich aus sein?

      —Nein, es muss für mich endlich anfangen.

      Die Lehrerin Reingard Söllner packte ihre zwei Kinder, ihre Katze, die Hund hieß, weil sie glaubte, sie sei ein Hund, ihre lindgrüne Zimmerlinde, ihre 37 Kaffee- und Teetassen, ihre 47 Fotoalben, ihre 747 Bücher, ihre 1017 Schallplatten sowie 27 Kisten mit anderen wichtigen Dingen wie den hellblauen Kopfkissenüberzügen, dem Radiowecker mit dem wegschaltbaren Display, dem Schlüssel für das Entlüften der Heizkörper, so was, und zog in den großen Bezirk am südöstlichen Rand der Stadt.

      Auf ihrem Schild auf der Gegensprechanlage stand Tür 3, Reingard Söllner. Auf dem Schild über der Gegensprechanlage stand Stiege 8. Auf der Breitseite des achtstöckigen Hauses stand Linsenburgerstraße 38. Aber das war nur der zweite Teil der Wahrheit. Der erste Teil lautete: 34 bis.

      Das sorgte anfangs bei allen Beteiligten für ziemliche Verwirrung, zum Beispiel, als Reingard Söllner zum ersten Mal ein Taxi rief, weil ihre beiden Kinder plötzlich hoch zu fiebern begannen und sie kurzerhand beschloss, mit ihnen unverzüglich zum Arzt zu gehen. Sie hing schon 17 Stunden in der Leitung, als sich die Dame vom Funk endlich meldete. „Bitte einen Wagen in die Linsenburgerstraße achtunddreißig“, sagte sie.

      —Linsenburgerstraße achtunddreißig, sagten Sie?

      —Ja, richtig, Linsenburgerstraße achtunddreißig.

      —Tut mir leid. Meine App findet Ihre Adresse nicht.

      —Ihre App muss sie auch nicht finden. Hauptsache, der Taxifahrer findet sie.

      —Aber ich brauche eine korrekte Adresse, sonst kann ich die Fahrt nicht vergeben.

      —Die Linsenburgerstraße achtunddreißig ist eine korrekte Adresse. Ich wohne da nämlich, und zwar mit meinen beiden Kindern, und wir brauchen jetzt ein Taxi, denn meine Kinder haben plötzlich beide hohes und immer höher werdendes Fieber bekommen.

      —Ich verstehe. Warten Sie, ich versuch es andersrum.

      —- - -

      —Ich finde da eine Linsenburgerstraße vierunddreißigbisacht-unddreißig. Nehmen wir die?

      —Auch gut.

      —Ihr Wagen kommt in sieben Minuten.

      —Danke.

      —Gern. Und nennen Sie in Zukunft bitte die richtige Adresse.

      Als das Taxi endlich kam, war die Lehrerin Reingard Söllner, 48, um Jahre gealtert und der Arzt, den sie besuchen wollte, längst in Rente. Das erste Taxi hatte nämlich bei Nummer 34 vergeblich gewartet und war wieder weggefahren. Also hatte Reingard Söllner noch einmal zum Handy gegriffen. „Haben Sie mir jetzt ein Taxi hinbestellt oder nicht? Ich warte bereits seit siebzehn Minuten“, sprach sie in das Mikro ihres Handys.

      —Wohin bestellt?

      —Linsenburgerstraße vierunddreißigbisachtunddreißig.

      —Linsenburgerstraße vierunddreißigbisachtunddreißig? Das muss die Kollegin gewesen sein.

      —Das Taxi ist jedenfalls nicht gekommen.

      —Moment, ich frage nach.

      —- - -

      —Der Fahrer sagt, er hat auf der Vierunddreißig zehn Minuten gewartet. Als zehn Minuten niemand kam, ist er wieder los.

      —Ich habe mit meinen Kindern auf Nummer achtunddreißig gewartet.

      —Warum nennen Sie uns dann die Vierunddreißig, wenn Sie auf Achtunddreißig warten?

      —Weil es die Achtunddreißig angeblich nicht gibt.

      —Die gibt es nicht, und Sie wohnen da?

      Moment, ich sehe eben, die Achtunddreißig gibt es wirklich nicht.

      —Das habe ich Ihrer Kollegin bereits alles erklärt. Es heißt in der App, die Sie verwenden, offenbar vierunddreißigbisachtunddreißig. Aber auf Nummer vierunddreißig wohne ich nicht. Ich wohne auf Nummer achtunddreißig. Da sind gut fünfhundert Meter dazwischen. Kann der Fahrer nicht die Nummer achtunddreißig anfahren?

      —Nicht,


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