Ende der Kreidezeit. Niki Glattauer

Ende der Kreidezeit - Niki Glattauer


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Da steht die Achtunddreißig nämlich ganz fett drin.

      —In seinen Stadtplan? Unsere Fahrer haben keine Stadtpläne mehr. Unsere Fahrer haben Navi. Sind Sie Österreicherin?

      —Tut das etwas zur Sache?

      —Nicht direkt.

      —Darf ich Ihnen die Sache noch einmal erklären. Es handelt sich um einen weitläufigen Wohnblock. Auf vierunddreißig steht ein achtstöckiges Haus, auf sechsunddreißig steht ein achtstöckiges Haus, und auf achtunddreißig steht ein achtstöckiges Haus. Jedes Haus hat drei Treppenhäuser, durchnummeriert von eins bis neun. Ich wohne auf Stiege acht, das heißt, im dritten der drei Häuser, das wäre dann das Haus mit der Nummer Linsenburgerstraße achtunddreißig.

      —Ich habe einen Vorschlag. Ich schicke nochmals ein Taxi auf die Vierunddreißig und Sie gehen einfach da hin. Sie sagten doch, Sie hätten nur ein paar Meter zu gehen.

      —Das sagte ich nicht. Sind Sie Deutsche?

      —Wie bitte?

      —Nichts. Ja, schicken Sie das Taxi bitte auf die Vierunddreißig.

      Das Taxi kam dann also an die 34, der Fahrer grüßte höflich, ließ alle einsteigen, stellte für Sami, 8, einen Kindersitz bereit und fuhr ohne Umschweife an die gewünschte Adresse. Leider gab es dann, wie gesagt, an der Adresse des Arztes den Arzt nicht mehr. Wo früher die Arztpraxis gewesen war, war nun ein Second-Hand-Shop namens Second-Hand(y)-Shop. Ein Mann mit Turban verkaufte Smartphones, iPhones, Navis, metallfarbene Staubsaugroboter, Wasserschöpfroboter in allen Farben, sprechende Kühlschränke, so was. Das hatte auch sein Gutes. Als die Kinder im Schaufenster die Wasserschöpfroboter sahen, waren sie auf der Stelle wieder gesund.

      „Seid ihr nicht mehr krank, ihr zwei Kinder?“, fragte Reingard Söllner. „Nein, Mami“, sagte Marie, 14. „Nein, Mami“, sagte Sami, 8.

      —Dann fahren wir wieder zurück.

      —Dürfen wir jeder einen Wasserschöpfroboter haben, einen orangen und einen türkisfarbenen?

      —Nein, Kinder.

      —Warum nicht, Mami?

      —Weil ihr keinen Wasserschöpfroboter braucht, weder einen orangen noch einen türkisfarbenen. Wir schöpfen das Wasser selber, wenn wir einmal welches in größeren Mengen verschütten.

      —Aber dann werden wir vor lauter Enttäuschung gleich wieder hoch zu fiebern beginnen.

      —Gut. Dann morgen. Einen orangen für dich, Sami, und einen türkisfarbenen für dich, Marie, und nur, wenn ihr versprecht, nicht gleich wieder hoch zu fiebern.

      —Ehrlich, Mami, versprochen?

      —Nein, Kinder, gelogen. Und jetzt ab nach Hause, Fieber hin oder her.

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      Reingard Söllner hatte also zwei Kinder, Marie, 14, und Sami, 8. Außerdem hatte sie, wie gesagt, eine lindgrüne Zimmerlinde, eine Katze, die Hund hieß, 37 Kaffee- und Teetassen, denn sie sammelte Kaffee- und Teetassen, und sie hatte innere Stimmen, mindestens zwei, beide weiblich. Meistens sprachen die inneren Stimmen zu ihr, wenn sie unterwegs war, und da die Lehrerin Reingard Söllner fast ununterbrochen unterwegs war, sprachen die inneren Stimmen fast ununterbrochen zu ihr, ausgenommen in Zeiten, in denen sie entweder zu Hause vor dem Fernsehgerät lag, schlief oder tagsüber in einem denkmalgeschützten Schulhaus in einer der Klassen stand oder saß und mit frisch abgerufener Zuversicht darauf wartete, dass eines der Kinder ein Mal wirklich Interesse für das zeigte, was sie erklärte oder erzählte oder mit Kreide an die Tafel schrieb oder zeichnete oder mit einem Overheadprojektor aus der Zeit der Alten Römer an die Wand projizierte.

      —Das Bild ist unscharf, Frau Lehrerin.

      —Schärfer geht es nicht.

      —Mein Vater sagt, in seinem Büro verwenden alle nur noch Dokumentenkameras. Niemand hat mehr einen Overheadprojektor aus der Römerzeit.

      —Wie kommst du auf Römerzeit, Manuel?

      —Sie sagen immer, der kommt aus der Römerzeit.

      —Stimmt, metaphorisch gesprochen kommt er aus der Römerzeit.

      —Was gesprochen?

      —Metaphorisch. Das Wort lernt ihr nächstes Jahr in Deutsch.

      —Und warum haben wir nicht eine Dokumentenkamera?

      —Wahrscheinlich, weil die Alten Römer damals auch noch keine hatten.

      Die inneren Stimmen hatten ziemlich oft Stress mit Reingard Söllner. Den größten Stress hatten sie im morgendlichen Fußgänger- und Öffibenutzer-Fließverkehr. Der Bezirk am südöstlichen Rand der großen Stadt war nämlich von dem Bezirk am nordwestlichen Ende der großen Stadt, wo das denkmalgeschützte Schulhaus stand, in dem sie arbeitete, manchmal in drei Stockwerken gleichzeitig, sehr weit entfernt. In Zeit ausgedrückt ungefähr so weit, wie ein Flugzeug von Berlin, Deutschland, nach Krakau, Polen, braucht. In Öffis ausgedrückt: zehn Minuten zu Fuß bis zur nächsten Haltestelle der Straßenbahnlinie 47 oder elf Minuten zu Fuß zum Bus der Linie 7A, dann im Fall Straßenbahn die U7, im Fall Bus die U8, danach in beiden Fällen eine Straßenbahn der Linien 37 oder 37B oder 37C, je nachdem, welche früher kam, und zuletzt gab es noch eine Anhöhe, Gehzeit zehn Minuten, zu bewältigen. Reingard Söllner pflegte jedes Mal, wenn sie auf schnellstem Weg zu ihrem Arbeitsplatz fuhr, 77 Minuten plus/minus 7 weitere unterwegs zu sein, bis sie, sofern über dem Bezirk nicht dichter Bodennebel lag oder sie ihre Brille vergessen hatte, die denkmalgeschützte Schule aus dem Boden auftauchen sah.

      Gerade noch gut gegangen, mahnte dann oft die innere Stimme nicht ohne vorwurfsvollen Unterton, es ist fünfvordreiviertelacht, Mathe in der 2B, danach Geografie in der 4A, nein, in der 3A, dazwischen Gangaufsicht im ersten Stock, du musst alles vorher kopieren, also jetzt gleich kopieren, hoffentlich ist der Kopierer nicht kaputt, jedenfalls hast du jetzt keine Zeit für einen Kaffee, vielleicht später. Schuhe wechseln nicht vergessen. Handys einsammeln nicht vergessen. Die Fernbedienung für den Beamer nicht vergessen, den neuen Code für das Schulverwaltungsprogramm nicht vergessen. Wohin hast du den Zettel mit dem Code noch mal gegeben?, fragte die innere Stimme. – Nirgendwohin, sagte die andere innere Stimme, du hast ihn in dein Notenheft geschrieben. – Nein, du hast dir den Zettel aufgehoben, denk scharf nach! – Herrgott, du hast vergessen, Sami das Sackerl mit den Flötenheften in die Schultasche zu packen! – Hast du nicht vergessen, heute ist Dienstag, Flöte ist Mittwoch. – Hoffentlich hat Marie ihre Jause nicht wieder liegen gelassen.

      —Guten Morgen, Frau Lehrerin!

      —Guten Morgen, Hosna!

      Guten Morgen, Jiahao!

      —- - -

      —Guten Morgen, Jiahao!

      Kannst du nicht zurückgrüßen, wenn du gegrüßt wirst?

      —Doch, selbstverständlich kann ich zurückgrüßen, wenn ich gegrüßt werde.

      —Warum tust du es dann nicht?

      —Ich habe Stress, Frau Lehrerin.

      —Ach, und du glaubst, da bist du der Einzige, der Stress hat?

      —Nein, Frau Lehrerin, das glaube ich nicht, aber Sie mussten gestern bestimmt nicht den ganzen Abend Englischvokabeln lernen statt Walking Dead zu schauen.

      —Nein, Jiahao, das musste ich nicht. Ich bin auf dem Platz des Himmlischen Friedens gesessen und habe Menschen auf den verschiedensten Wegen kommen und gehen sehen und manche habe ich bedauert und manche habe ich beneidet, aber die meisten habe ich bedauert, denn während sie glaubten, gehen zu müssen, saß ich bereits.

      —So hätte ich meinen Abend auch gern verbracht.

      —Nein, Jiahao, du hättest ihn mit Walking Dead verbracht, das ist nicht dasselbe. Aber es ist ähnlich, das gebe ich zu.

      So


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