Ende der Kreidezeit. Niki Glattauer

Ende der Kreidezeit - Niki Glattauer


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Stunden sprach Reingard Söllner selber, wenn sie nicht gerade einem ihrer Schüler zuhörte oder einer Schülerin oder wenn sie nicht gerade einen von ihnen über ihrem Kopf so lange und so heftig im Kreis schwang, bis er aufhörte zu quietschen und zu gackern und zu brüllen und zu raufen, oder eine, wenn es ein Mädchen war.

      In dieser Zeit konnten sich die inneren Stimmen erholen, denn sie waren oft schon frühmorgens nicht mehr gut bei Stimme. Wie gesagt, Berlin–Krakau, nur ohne Bordservice und Flugbegleiter, dafür mit im Schnitt 37 einander im Sekundenrhythmus abwechselnden Sitz- oder Stehnachbarn, 7 Bahnsteigverwechslungen, 7 Betriebsstörungen, 7 Verspätungen und zu all dem 57 Lautsprecherdurchsagen. Die inneren Stimmen taten, was sie konnten, aber manchmal fanden sie trotz aller Mühen kein Gehör. Stimmen von oben und von unten, von links und von rechts.

      —Wenn die Streifen rosa sind, dann bist du schwanger.

      Das Mädchen links neben ihr mit den Stöpseln in den Ohren starrte Reingard Söllner ausdruckslos an, während sie in ihren Smarttrottel sprach.

      —Wenn wir Mannsdorf schlagen, sind wir vor Neusiedl, aber Mannsdorf musst du erst einmal schlagen, die haben jetzt den Kirchmaier gekauft.

      Der Mann auf dem Sitzplatz unter ihr sprach geradewegs in den Nacken seiner Vorderfrau. Auf halbem Weg dazwischen befand sich das Mikro, das kaum sichtbar an seinem Kopfhörerkabel hing. Manchmal griff die Frau, in deren Nacken er sprach, ohne sich umzudrehen mit der Hand an ihren Nacken und wischte ein paar der Worte weg, damit die anderen wieder Platz hatten.

      —Natürlich ist hellrosa auch rosa.

      … FÄHRT AUFGRUND EINER BETRIEBSSTÖRUNG AUSNAHMSWEISE VON BAHNSTEIG 1 AB. ACHTUNG, EINE DURCHSAGE. DER NÄCHSTE ZUG RICH…

      —Der Kirchmaier war beim FC Würmla doch nur deswegen Ersatz, weil er letzte Saison gegen Reckelshausen völlig versagt hat.

      Die Vorderfrau griff an ihren Nacken, putzte Kirchmaier weg, in einem Aufwischen auch Reckelshausen. Versagt durfte noch bleiben.

      —Wie rosa jetzt? Rosaner als vorher oder immer noch weiß?

      Das kannst du nicht sagen? Dann geh halt in die Sonne.

      Ja, ans Tageslicht!

      Klar jetzt sofort. Willst du warten, bis die Streifen grün werden?

      … DURCHSAGE. DER NÄCHSTE ZUG RICHTUNG MARTINSPLATZ FÄHRT …

      —Nein, Annsophie-Wolke, lass die Zeitung jetzt liegen, die ist bäh.

      —Nein, nicht beige. Sie müssen rosa sein, mindestens mannerschnittenrosa, aber wenn es misspiggyrosa ist, ist es eindeutig. Schick mir doch einfach ein Foto!

      —Annsophie-Wolke, was hat Mami gesagt, du sollst die Zeitung liegen lassen. Wir heben keine Zeitung vom Boden auf.

      —Der Kirchmaier ist vor allem bei den hohen Bällen echt stark, aber gut, gegen Mannsdorf musst du den Ball sowieso niedrig halten.

      —Bäh, bäh, bäh! Wer das schon aller in der Hand gehabt haben kann! Pfui!

      … MARTINSPLATZ FÄHRT AUFGRUND EINER BETRIEBSSTÖRUNG VON BAHNSTEIG 1 AB. ACHT…

      Das Mädchen mit dem Schwangerschaftstest auf ihrem Display hatte es plötzlich eilig auszusteigen. Reingard Söllner stand schon 7 Minuten im Zug, ohne dass er sich in Bewegung gesetzt hätte. Du wirst zu spät kommen, du musst anrufen, sagte die innere Stimme. – Nein, musst du noch nicht, die U-Bahn wird jeden Moment losfahren, sagte die andere innere Stimme. – Wenn du nicht anrufst, ist aber um acht Uhr niemand in der Klasse.

      —Gut, ganz wie du willst, dann fass die Bäh-Zeitung eben an, aber wenn du später krank wirst, bist du selber schuld, von mir bekommst du kein Pflaster. Ich hab dir jetzt fünf Mal gesagt, dass du die Bäh-Zeitungen, die auf dem Boden liegen, nicht angreifen sollst.

      Allmählich wurde das Gedränge unerträglich. Achte doch mal auf die Durchsage!, sagte die innere Stimme. – Was sagt ihr, innere Stimme? Ich kann euch kaum hören, dachte Reingard Söllner.

      … KOMMT ES AUF DER LINIE U7 RICHTUNG HUBMANNPLATZ ZU LÄNGEREN WARTEZEITEN … ACHTUNG EINE DURCHSAGE. DER NÄCHSTE ZUG RICHTUNG MARTINSPLATZ FÄHRT AUFGRUND EINER BETRIEBSSTÖRUNG AUSNAHMSWEISE VON BAHNSTEIG 1 AB.

      Bahnsteigwechsel! Ihr Zug ging vom anderen Gleis ab, sie musste sofort hinaus! Das geschah nicht zum ersten Mal, doch immer wieder wurde Reingard Söllner davon überrascht. Manchmal gab es in solchen Fällen kein Hinauskommen mehr. Dann musste sie sich ihren Weg freischießen. Gehen Sie bitte aus dem Weg oder ich schieße, sprach sie die Menschen, die ringsum, dicht an dicht, an ihren Handys nuckelten, direkt an, die Männer mit den Stöpseln in den Ohren und die Frauen mit den Stöpseln in den Ohren und den Bettler mit der Mütze in der Hand und den Radfahrer mit dem Mountainbike 26 Zoll Shark 2.0, Hillside, in Schwarz auf dem Kinderwagenplatz und sogar das Kleinkind in seinem Quinny Moodd Kleinkinderwagen mit automatischer Aufklappfunktion, Ruheposition in beide Fahrtrichtungen, modernes Design, grau, mit dem Gameboy auf den Pampers Premium Protection New Baby Windeln, Gr. 1 Newborn (2–5 kg).

      Wenn alle rechtzeitig den Weg frei machten, war alles in Ordnung, aber wenn sie es nicht taten, drückte Reingard Söllner ab. Sie war im Besitz einer Pistole der Marke Glock, Kaliber 40 S&W; Mod. 35 Gen. 4, 5“ (12,7 cm) Lauflänge, 15 Schuss, sehr guter Zustand, Stahl-Polymer-Griffstück, verstellbare Visierung, Safeaction Abzugssystem, und sie trug diese Pistole in ihrer Handtasche immer bei sich. Sie hatte eigens dafür den Waffenführerschein gemacht, psychologischer Test, Schulung über den Gebrauch der Schusswaffe, Gesetzeskunde, Waffenrechtsrichtlinien, Waffenrechtsnovellen 1 bis 2431a, das ganze Programm. Ihr Lieblingsparagraf war Paragraf 25, WaffG: Im Verfahren zur Ausstellung einer waffenrechtlichen Urkunde hat sich die Behörde davon zu überzeugen, ob der Antragsteller voraussichtlich mit Schusswaffen sachgemäß umgehen wird. Wie es ausgeht, wenn man davon überzeugt ist, dass eine Sache voraussichtlich eintreten wird, zeigt die Scheidungsstatistik.

      In der großen Stadt war es wie in den meisten anderen großen Städten der zivilisierten Welt den Bürgern natürlich verboten, eine geladene Waffe bei sich zu tragen, ebenso den Bürgerinnen, wenn es sich um Frauen handelte, das wusste Reingard Söllner, immerhin hatte sie die Einschulung mit „Bestanden“ bestanden, selbst am südöstlichsten Rand der großen Stadt war es verboten, eine geladene Waffe bei sich zu tragen. Reingard Söllner rechtfertigte vor sich das unbefugte Mitführen ihrer Glock jedoch damit, dass der Gesetzgeber die verschiedenen Unpässlichkeiten im morgendlichen Fußgänger- und Öffibenutzer-Fließverkehr nicht ausreichend berücksichtigt habe. Solche Unpässlichkeiten konnten aus normalen Menschen im Handumdrehen ganz unnormale Menschen machen, derer man sich mitunter nur durch Schusswaffengebrauch erwehren konnte. Manchmal türmten sich also links und rechts die Leichen, wenn Reingard Söllner einen U-Bahn-Waggon oder einen Bus oder eine Straßenbahn verließ, um umständehalber rasch auf den gegenüberliegenden Bahnsteig zu gelangen.

      An jenem Morgen aber, an dem der Schüler Jiahao, 13, um 07:40 Uhr vor einem denkmalgeschützten Schultor nicht grüßte, weil er am Vorabend mit dem Lernen von Englischvokabeln Stress gehabt hatte, war es ohne Schusswaffengebrauch gegangen. Entschuldigung, dürfte ich bitte …, Verzeihung, ich müsste schnell … Und die Menschen stoben links und rechts auseinander. Nur die Mutter eines ungefähr vier Jahre alten Mädchens riskierte sowohl ihr eigenes Leben als auch das ihrer Tochter.

      —So passen Sie doch auf, da sitzt ein kleines Kind auf dem Boden!

      —Dann nehmen Sie den Balg eben auf.

      —Haben Sie mein Kind eben Balg genannt?

      —Habe ich. Und wenn Sie noch ein Wort sagen, schieße ich.

      Diese Worte wurden natürlich nicht gewechselt, sie wurden nur geblickt. Aber da war Reingard Söllner schon über das rosa gekleidete Kind auf dem Boden hinweggestiegen und zur Tür hinaus. Nicht ein Schuss musste fallen.

      Als sie zehn Minuten später beruhigt im fahrenden Zug saß, fiel ihr eine Formulierung ein, die sie zuvor mit angehört hatte: den Ball niedrig halten. Das erinnerte Reingard Söllner an einen Vorfall in ihrer Jugend. Da war sie bei einem Fußballspiel


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