Black and Blue. Wolfram Knauer
Wolfram Knauer
Black and Blue
Louis Armstrong – Sein Leben und seine Musik
Reclam
Eine Liste mit Links zu den im Buch besprochenen Aufnahmen und Filmausschnitten sowie weitere Informationen finden Sie unter: www.reclam.de/black_and_blue
2010, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Coverabbildung: Tom Hanley / Alamy Stock Photo
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961878-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011323-3
Louis Armstrong
Louis Armstrong war der vielleicht erste Star, und er ist bis heute ein Markenzeichen des Jazz. Viele der von ihm gespielten Stücke gingen ins Standardrepertoire des Jazz ein, wurden – bis in die Gegenwart – gecovert oder gesampelt. Sein Name ist selbst Uneingeweihten bekannt, Menschen, die noch nie ein Jazzkonzert besucht haben und den Sänger von ›Hello Dolly‹ und ›What a Wonderful World‹ in seinen frühen, so einflussreichen Aufnahmen der Hot Five und Hot Seven nicht erkennen würden.
Louis Armstrong ist Legende und Mythos, und er selbst hat an beidem kräftig mitgestrickt. Die Legende beginnt schon mit seinem Geburtsdatum. Sein ganzes Leben lang feierte »Satchmo«, wie er von seiner Fangemeinde liebevoll genannt wurde, seinen Geburtstag am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag. Das Jahr seiner Geburt gab er stets als 1900 an – fürwahr ein amerikanischer Mythos, so alt wie das Jahrhundert, das durch seine Musik geprägt werden sollte. Zweifel an seinem Geburtsjahr wurden Anfang der 1980er Jahre laut, als der Jazzhistoriker und Armstrong-Biograph James Lincoln Collier die Hypothese aufstellte, der Trompeter sei in Wahrheit zwei Jahre zuvor, am 4. Juli 1898 geboren.1 Mit Hilfe des in New Orleans lebenden Regionalhistorikers Tad Jones deckte der Journalist Gary Giddins in seiner Armstrong-Biographie 1988 dann das tatsächliche Datum, den 4. August 1901, auf, das seither als das wahrscheinlich korrekte gehandelt wird,2 und belegt, dass Armstrong sich irgendwann um 1918 ein Jahr älter machte, als er wirklich war. An den Legenden arbeitete Armstrong selbst fleißig mit, etwa in zwei von ihm verfassten Autobiographien oder in zahlreichen autobiographischen Skizzen, die er an Freunde und Journalisten schickte, und von denen sich einige im Louis Armstrong Archive in Queens, New York, einsehen lassen.
Louis Armstrong spielt sich selbst im Film New Orleans, 1947. (Fotoarchiv, Jazzinstitut Darmstadt)
Wenn auch nicht genauso alt wie das Jahrhundert, so bleibt Armstrong doch gewissermaßen so alt wie der Jazz. Dieses Buch erzählt die Geschichte von Louis Armstrong, der als Trompeter die Entwicklung des Jazz prägte, der als Sänger eine neue Klangfarbe in die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts brachte und der als Entertainer zu einem der beliebtesten Künstler Amerikas wurde. Es erzählt zugleich die Geschichte seiner Musik, die Menschen bewegte, die Musiker auswendig kannten, die bis heute im kollektiven kulturellen Gedächtnis der Welt weiterlebt und in ihrer Balance von Virtuosität, swing und Energie nach wie vor ein Lächeln auf das Gesicht all jener zaubert, die sie zum ersten oder zum wiederholten Male hören.
Eine erste, erheblich kürzere Fassung dieses Buches erschien 2010. Seither haben weitreichende politische Entwicklungen in den Vereinigten Staaten auch den Blick auf die Kultur des Landes beeinflusst: der erste schwarze Präsident, der zwischenzeitliche Siegeszug eines rigiden Populismus, Polizeigewalt und terroristische Attentate auf Schwarze und eine breite Bewegung, die sich dem strukturellen Rassismus in System und Gesellschaft entgegenstellt. Die Bewegung Black Lives Matter bestimmte einen Großteil des Diskurses der Trump-Ära, und sie ließ die Welt mit Erstaunen auf ein Land blicken, das in vielem so fortschrittlich ist, dem es aber bislang nie gelungen war, die eigene Erbsünde – den Mord an der indigenen Bevölkerung, die Sklaverei, den rassistischen Hass – in der breiten Gesellschaft aufzuarbeiten.
Dabei bietet die Geschichte der schwarzen Musik so viele Beispiele dafür, wie Kultur Brücken bauen und versöhnen kann. Die afroamerikanische Musik hat das 20. Jahrhundert wohl stärker geprägt als irgendein anderes kulturelles Phänomen. Louis Armstrong wurde als einer ihrer Stars dementsprechend von allen Seiten beäugt, mal hoffnungsvoll, mal skeptisch, mal zustimmend, mal ablehnend. Lange Zeit wurde ihm vorgeworfen, sich dem weißen Publikum anzubiedern, ein »Onkel Tom« zu sein und bei allem Erfolg die Ziele seiner eigenen Community aus den Augen verloren zu haben. In den letzten Jahren hat sich diese Einschätzung allerdings geradezu umgekehrt. Nun wird Armstrong als politisch bewusster Künstler gefeiert, der seinen afroamerikanischen Erfahrungsschatz einzusetzen verstand, um sowohl sein schwarzes wie auch sein weißes Publikum zu erreichen. In dieser Lesart scheint in seinem breiten Grinsen, in den mit übertriebenem Lachen gespickten Ansagen ein wohl gesetztes double entendre durch – jene Mehrdeutigkeit, die afroamerikanische Sprache seit der Sklaverei nutzte, damit schwarze Amerikaner sich untereinander verständigen konnten, ohne dass die Weißen auch nur den Anflug einer Ahnung hatten, worum es wirklich ging. Die vorgebliche »Unterwerfung« unter einen weißen Manager ist in dieser Lesart ein geschickter Schachzug, mit dem sich auf die Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse reagieren lässt, weil dieser innerhalb des von Weißen beherrschten Musikbusiness effektiver arbeiten konnte, als ein schwarzer Agent dies je hätte tun können. Somit werden Armstrong fast schon subversive kulturelle Strategien zugeschrieben, mit denen er fast unmerklich gesellschaftliche Perspektiven verändern konnte.
Es ist also eine bewusste Entscheidung, dieser erheblich überarbeiteten neuen Auflage meiner Armstrong-Biographie den Titel »Black and Blue« zu geben und es damit nach einer frühen Aufnahme des Stücks von Fats Waller zu benennen, mit der Armstrong der politischen Forderung von Gleichberechtigung und gleicher menschlicher Würde Ausdruck verlieh. Denn bei aller Fröhlichkeit war seine Musik immer auch ein gesellschaftliches Statement. Die Tatsache allein, dass er, der Junge aus dem Armenviertel von New Orleans, zum Kulturbotschafter seines Landes werden konnte, zeigt die Wirksamkeit der Strategien, die Armstrong anwandte, um die Welt ein Stück besser zu machen.
Egal wie man ihn sieht, Louis Armstrong steht auf einem Sockel, nicht nur für Jazzfans. In New Orleans gibt es eine überlebensgroße Statue des Trompeters, und die Verehrung, die man bei seinen Fans genauso spürt wie etwa in der Dauerausstellung des Louis Armstrong House Museum oder in vielen Veröffentlichungen über ihn, trägt Züge einer Heldenverehrung. Dabei taugt Armstrong paradoxerweise gerade deshalb zum heldenhaften Vorbild, weil er nie ein Held sein wollte, weil er sich selbst auch nie so verstand. Es war seine Authentizität, die Menschen zu Lebzeiten anzog und bis heute fasziniert. Eine Authentizität, die sich durch seine Stimme genauso mitteilt wie durch sein Trompetenspiel, durch seine Worte genauso wie durch seine Gesten.
Good Ole Satchmo, der gute alte Satchmo: Selbst in den Denkmälern für ihn aber, ob sie nun aus Bronze sind oder Vinyl oder Papier, wirken die Strategien weiter, mit denen Armstrong die Welt verändern wollte. Er schuf seine Kunst aus dem Wissen seiner Community heraus, und er schuf sie mit dem Bewusstsein, für diese zu sprechen. Er schuf sie aber auch in Kenntnis der Musikindustrie des 20. Jahrhunderts, für die Verkäuflichkeit und Verkaufszahlen an erster Stelle standen. Es war Louis Armstrong, der viele weiße amerikanische Hörer und bald seine Fans auf der ganzen Welt erstmals mit dem Vokabular des schwarzen Amerika vertraut machte. Seine Popularität sorgte für einen Wandel der Klangideale in der Musik, für neue Performancepraktiken, für ein geändertes Bewusstsein dessen, was Showmanship bedeutet. Sein Gesang beeinflusste die großen Sängerinnen und Sänger von Bing Crosby über Ella Fitzgerald und Billie Holiday bis Frank Sinatra. Seine improvisatorischen Fähigkeiten machten aus der Ensemblekunst Jazz eine Musik, in der das Solo im Mittelpunkt stand. Seine Bühnenpräsenz hatte Einfluss auf Chuck Berry im Rock oder Michael Jackson