Black and Blue. Wolfram Knauer

Black and Blue - Wolfram Knauer


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lernte also sein Handwerk im Waisenhaus. Und viele Aspekte seiner späteren Kunst fanden hier bereits ihre erste Manifestation: die Kraft, eine lange Melodie halten zu können; das rhythmische Feeling, das sich auf dem Tamburin oder in seinen komischen Tänzen ausdrücken konnte; das Verlangen danach, sein Publikum zu unterhalten. Von der Musik, die Armstrong in der Waisenhaus-Kapelle spielte, ist nichts überliefert, aber eine Annäherung an die Spielfreude mag ein Tonfilmbeispiel der Jenkins Orphanage Band geben, das für eine Wochenschau 13 Jahre später in Charleston gedreht wurde und das man auf Videoplattformen oder der Website des Jenkins Institute findet. Etwa 25 Jungen stehen in Banduniform und spielen eine gleichermaßen von Ragtime und Marsch beeinflusste Musik, während zwei jugendliche Zeremonienmeister vor der Band tanzen und wild dirigieren. Vor allem die Outtakes des knapp elfminütigen Filmdokuments faszinieren: Nahaufnahmen von ernsthaft-konzentrierten Zehnjährigen, eine Szene mit Vortänzerinnen und Vortänzern, deren Bewegungen mal den damals gerade noch populären Charleston-Tanz heraufbeschwören, dann aber auch bereits die improvisatorischen Moves späterer Hip-Hop-Tänzer21.

      Armstrong blieb zwei Jahre im Heim und wurde dann in die Obhut seines Vaters entlassen, der sich bereit erklärt hatte, auf ihn aufzupassen – auch wenn er wahrscheinlich eher an einem billigen Babysitter für die beiden Söhne interessiert war, die er mit einer neuen Frau hatte. Wenig später lebte Louis wieder bei Mutter und Großmutter.

      Armstrong verschleierte zwar sein Geburtsdatum; über seine Herkunft und die durchaus harten Fakten seiner Jugend aber sprach er recht offen. Die Not seiner Kindheit mag ein Grund dafür gewesen sein, dass er sein ganzes Leben lang Menschen auch finanziell aushalf, wo immer er konnte. Der Posaunist Preston Jackson erinnerte sich, wie sich während einer Tournee in den 1930er Jahren gegen 18 Uhr eine Schlange in der Lobby des Hotels bildete, in dem Armstrong abgestiegen war. Der kam irgendwann herunter und verteilte unter den Wartenden Geld.22 Zugleich aber war sich Satchmo auch bewusst, dass seine Karriere ihn zum Vorbild für viele Jugendliche machte, die wie er eine schwere Jugend durchlebten. 1955 schickte sein Manager Joe Glaser ihm einen Stapel Briefe von Jungen, die im Milne Boys Home in New Orleans ein Instrument erlernten. Armstrong hatte dem Waisenhaus Geld gespendet, damit die dort vorhandenen Instrumente repariert und ein Musiklehrer angestellt werden konnte. »Ich bin einer von denen, die ein Horn blasen werden«, schreibt ihm der junge Sylvester Thomas. »Sie werden mich einmal Master Armstrong nennen.«23 Das Milne Boys Home, das von 1933 bis 1986 bestand und wo in späteren Jahren eine Plakette an Armstrong erinnerte, war das Nachfolgeheim des Colored Waif’s Home, in dem Louis seine ersten Musikstunden erhalten hatte. Peter Davis, sein Musiklehrer, unterrichtete dort noch bis 1949.

      Erste Jobs

      Das Kornettspiel jedenfalls, das Armstrong im Heim erlernt hatte, war nun eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle. Die Schule besuchte er nicht mehr, was er später immer bedauert hat. Er musste seine Mutter und Schwester unterstützen, kaufte ein verbeultes Kornett in einem Pfandhaus und verdiente sein Geld mit Musik. Die erste Band, mit der er auftrat, bestand aus ihm, einem Pianisten und einem Schlagzeuger. Sie spielten in einer Spelunke namens Matranga’s, und Armstrong nahm 1,25 Dollar pro Abend ein – damals eine Menge Geld. Der Gig begann um 8 Uhr abends und dauerte bis zum Morgengrauen. Armstrongs Mutter Mayann kam gegen Mitternacht vorbei und brachte etwas zu essen. Um 4 oder 5 Uhr morgens kamen die Huren ins Matranga’s und gaben der Band ein Trinkgeld, damit sie den Blues spielte. Nach dem Gig ging Armstrong nach Hause, legte sich ein paar Stunden hin und arbeitete dann in einem Kohlenhof oder lud Bananendampfer aus. Einmal kam Joe Oliver vorbei im Matranga’s, hörte sich Armstrong an und meinte: »Ich kann das alte Kornett einfach nicht mehr sehen. Ich werde dir ein neues Horn geben.« Oliver nahm ihn unter seine Fittiche, lud ihn nach Hause zum Essen ein, gab ihm Aufgaben aus einem unbekannten Übungsbuch und spielte mit ihm im Duett.24

      »In jeder Band gab es in diesen frühen Tagen in New Orleans wenigstens einen Musiker, der Noten lesen konnte«, erklärte Armstrong 1960 in einem Fernsehinterview.25 Meist sei das der Trompeter, der Kornettist oder gegebenenfalls der Pianist gewesen. Der Grund war einfach: Es brauchte wenigstens einen Musiker, der die Melodiestimme spielen und die neuen Stücke, die in den Notengeschäften ankamen, dem Rest der Band vermitteln konnte. Danach, so Armstrong, hätten sich die Musiker übers Wochenende zurückgezogen und geprobt. Das sei dann nicht anders gelaufen als in den Vokalquartetten, in denen er mitgewirkt habe: Man musste die Melodiestimme kennen und dazu in der Lage sein, eine passende Begleitstimme dazu zu bilden. Bei den Stunden mit Oliver ging es um beides: sichere Melodieerfindung und den Einsatz einer effektvollen Komplementärstimme.

      Ein weiterer einflussreicher Mann in Armstrongs Jugend war Benny Williams. »Black Benny«, wie er allgemein genannt wurde, spielte die Bass und die Trap Drum in verschiedenen Brass-Bands der Stadt, etwa der populären Tuxedo Brass Band. Armstrong schaute zu ihm auf, und Black Benny begleitete den jungen Kornettisten fast väterlich und machte andere Musiker der Stadt auf ihn aufmerksam, den Sopransaxophonisten Sidney Bechet etwa oder den Posaunisten Edward »Kid« Ory.

      Auch Ory – 1886 auf einer Plantage circa 45 Kilometer flussaufwärts von New Orleans geboren – hatte seine ersten musikalischen Erfahrungen mit Gesang gemacht. Allerdings nicht mit Barbershop-Gesang, sondern mit dem Summen von populären Schlagern in einem »humming quartet«. Einer der vier Sänger übernahm die Melodie, die drei anderen sorgten für dreistimmigen, wenn nicht gar vierstimmigen Harmoniegesang, erzählte er später.26 Ory jedenfalls erkannte Armstrongs Talent und bot ihm an, er könne bei ihm einsteigen. Als Orys Kornettist Joe Oliver 1918 New Orleans verließ, um nach Chicago zu gehen, nahm Armstrong, der aushilfsweise bereits einige Male in Orys Brassband mitgespielt hatte, seinen Platz ein. Er war sozusagen der Kronprinz, gehörte bereits 1918 zu den vielversprechendsten Musikern der Mississippi-Metropole. Armstrong war gerade mal siebzehn Jahre alt, sein Repertoire war noch relativ klein, doch er lernte schnell.

      »Er hatte ein exzellentes Gehör und ein großartiges Gedächtnis«, erinnerte sich Edward Ory später. »Man musste ihm ein neues Stück nur vorsummen oder vorpfeifen, dann war er sofort drin. Und wenn er ein Stück einmal gespielt hatte, vergaß er es nie mehr. Innerhalb von nur sechs Monaten hatte jeder in New Orleans von ihm gehört.«27 Eines der Stücke, in dem der junge Kornettist in Orys Band hervortrat, hatte Armstrong selbst mitgebracht. Er habe es ›Get Off Katie’s Head‹ genannt, so Ory, habe die Musik und den Text selbst verfasst und sogar einen kleinen Tanz eingebaut. Dann habe er den Titel für 50 Dollar an den Pianisten und Musikverleger Clarence Williams verkauft, der in der Urheberrechtsmeldung 1919 als Komponist den Geiger Armand J. Piron angab. ›I Wish I Could Shimmy Like My Sister Kate‹ hieß das Stück in dieser Version und wurde 1922 zu einem populären Hit überall in den Vereinigten Staaten. Armstrong habe nicht einmal das versprochene Honorar gesehen.28

      Joe Oliver war wie andere Musiker nach Chicago gegangen, weil der für die amerikanische Navy zuständige Minister in Washington im August 1917, also vier Monate nach Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg, die Prostitution im Umkreis von fünf Meilen um alle Navy-Stützpunkte verbieten ließ. Die Kommunalpolitiker, die durchaus um die Wirtschaftskraft des Rotlichtbezirks wussten, versuchten in Washington zu intervenieren, aber das Ministerium blieb hart: »Entweder schließt ihr das Rotlichtviertel, oder die Streitkräfte werden es tun«, ließ der Minister dem Bürgermeister mitteilen. Zwei Wochen später verabschiedete der Stadtrat die Verordnung, und am 12. November 1917 endete die Geschichte von Storyville als einer der größten Sündenmeilen der Welt. Mit dem neuen Gesetz verloren nicht nur die Prostituierten ihre Arbeit, sondern genauso viele Wirte und mit ihnen auch die Musiker.

      Nun stellte die Schließung von Storyville nicht den einzigen Grund dar, warum Musiker ihr Glück anderswo versuchten. Schon zuvor waren Musiker aus New Orleans im Zuge einer allgemeinen Migration aus dem Süden fortgegangen, um an der Westküste, in San Francisco oder Los Angeles, oder aber in New York, St. Louis oder Chicago ihr Glück zu versuchen. Die Schließung des Rotlichtviertels aber ließ auch Musiker, die eigentlich nicht aus der Stadt fortwollten, ihre Meinung überdenken. In New Orleans war mit Musik einfach kein Geld mehr zu verdienen. Und von den Kollegen, die fortgegangen waren, kamen begeisterte Rückmeldungen nach Hause: Dort draußen würde richtig nach Musik verlangt, hieß es in ihren Briefen, und,


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