Black and Blue. Wolfram Knauer
gab. Sie waren reine Veranstaltungsboote, beförderten weder Reisepassagiere noch Ladung. Sie fuhren den Mississippi auf und ab, von New Orleans über Natchez, Memphis, St. Louis bis nach Davenport, Iowa, wo die Schiffe meistens den Winter über festmachten. Es gab unterschiedliche Ausflugsprogramme, Tagestrips etwa, die morgens begannen und bis spätabends gingen, oder Nachtexkursionen von halb neun abends bis gegen Mitternacht. Es gab Riverboats, die jeden Tag zu ihrem Anlegeplatz zurückkehrten, und andere, die den Mississippi Hafen für Hafen abfuhren und an Orte, die keine eigenen Ballsäle besaßen, ein wenig Vergnügung brachten.
Die meisten der Bands, die in den Salons der Boote zum Tanz aufspielten, waren weiß, nicht anders als ihr Publikum. Die Ausnahme war der Montagabend, an dem jeweils eines der Boote nach St. Louis fuhr und die Band für ein schwarzes Publikum spielte. Am besten besucht waren die Wochenenden mit einer Tanzveranstaltung am Freitagabend, zwei am Samstag und mindestens einer weiteren am Sonntag.33 Wenn die Musiker länger auf dem Schiff unterwegs waren, erhielten sie 35 Dollar pro Woche plus Kost und Logis an Bord. Pops Foster, der zur selben Zeit in der Band war wie Armstrong, erinnert sich, dass der Job eigentlich recht angenehm gewesen sei: »Du spieltest Musik, die [den Streckfus-Leuten] gefallen musste, nicht dem Publikum. Solange die glücklich waren, hattest du einen Job.«34
Armstrong reiste drei Sommer lang mit Marable auf der »S. S. Sydney«. Wie schon das Barbershop Quartett seiner Jugend, seine Zeit im Colored Waif’s Home oder die Abende mit Joe Oliver, so war auch das Engagement bei Marable für ihn eine wichtige Schule. Anders als bei Kid Ory nämlich, der selbst nicht sonderlich notenfest war, wurde genau das von den Musikern auf dem Riverboat erwartet. Marable und der Mellophon-Spieler der Band, Davey Jones, halfen Armstrong dabei, notenfest zu werden, ein Übriges taten die täglichen Proben, die bis zu zwei Stunden dauern konnten und bei denen oft Captain Joe Streckfus persönlich vorbeischaute, um mit einer Uhr in der Hand das Tempo mitzustoppen – 70 Schläge die Minute für Foxtrotts, 90 für One-Steps. Genauso nützlich war eine andere Seite dieses Engagements: Bei Marable eignete Armstrong sich ein großes Repertoire aktueller Schlager- und Blueskompositionen an. Am Abend waren insgesamt 14 Nummern zu spielen, erinnerte sich Foster später, und alle zwei Wochen wechselte das Repertoire. Man konnte die Stücke ausdehnen, sie waren in der Regel also weit länger als die Beispiele solch früher Musik auf der zeitlich begrenzten Schellackplatte erahnen lassen. Die weißen Kapellen an Bord, die oft auch Geigen in ihren Reihen hatten, spielten eher seichte Musik; und auch Marable hatte Walzer und Polkas im Programm, daneben aber eben auch Ragtimes, Blues und andere Titel, die in New Orleans gerade populär waren. Seine Band galt als »schwimmendes Konservatorium«, durch das neben Armstrong und Foster auch zahlreiche andere Musiker gingen, der Trompeter Henry Red Allen etwa, der Gitarrist Johnny St. Cyr und die Schlagzeuger Baby Dodds und Zutty Singleton. Fate Marable ging 1924 mit seinen Society Syncopators für Plattenaufnahmen ins Studio, die deutlich auf den Charleston-verrückten Tanzmarkt gerichtet waren. ›
Bei einer der Schiffstouren in den Norden traf Armstrong 1920 übrigens auch den Kornettisten Bix Beiderbecke. »Der war ein niedlicher Junge«, erinnerte sich Satchmo, der ja gerade mal zwei Jahre älter als Beiderbecke war, »er kam immer runter, um die Bands zu hören, und ging dann heim, um zu üben, was er gehört hatte.«35 Später machte Beiderbecke, wann immer er in Chicago war, einen Abstecher in den Lincoln Gardens, wo Armstrong mit King Olivers Creole Jazz Band auftrat. Tatsächlich entwickelte er in etwa zeitgleich mit Armstrong seinen eigenen Stil, lyrischer, sanfter, aber nicht weniger einflussreich auf die Jazzgeschichte.
In seiner Autobiographie versichert Armstrong, dass er Beiderbecke immer verehrt habe, auch und gerade wegen seines lyrischen Ansatzes: »Wenn du einen Typen mit einem so reinen Ton wie Bix hast, dann ist es völlig egal, wie laut die anderen spielen, sein Ton wird durch alles durchscheinen.« Beiderbecke wiederum sei laut Schlagzeuger Ralph Berton unglaublich selbstkritisch gewesen, aber wann immer er Armstrong hörte, habe er einfach nur gestrahlt.36 Armstrong war sich der Konkurrenz auf seinem Instrument durchaus bewusst, aber er hatte – vielleicht, weil Beiderbecke so deutlich anders spielte und sicher auch, weil er früh starb, 1931, mit gerade mal achtundzwanzig Jahren – kein Problem damit, den Kollegen später als einen der ganz Großen anzuerkennen. »Ich hatte all seine Platten. ›Singin’ the Blues‹, sein Solo über ›From Monday On‹, Mann, wie schön: whap ba boo-dee… boo-da de-za-na.«37
Kapitel 2
»Chicago Breakdown«
Goin’ to Chicago, King Oliver (1923–1925)
Chicago
Joseph Nathan Oliver wurde 1881 in einer kleinen Gemeinde am Mississippi River geboren und zog bereits als Kind nach New Orleans. Ab 1908 spielte er in den Brassbands der Stadt, und schnell wurden andere Musiker auf den Kornettisten aufmerksam. Bald gehörte er verschiedenen der großen Marsch- und Tanzkapellen der Stadt an: unter anderem der Onward Brass Band, der Eagle Brass Band, dem Original Superior Orchestra und der Magnolia Band. Er spielte in Kid Orys Band, in der er auch seinen »Adelstitel« »King« Oliver erhielt, bevor er sich 1918 entschied, nach Chicago zu gehen – in die Windy City, das Industrie- und Handelszentrum im Norden, wo die Arbeit mehr Geld versprach als im New Orleans der auf Druck der Navy geschlossenen Lasterhöhlen. Andere namhafte Kollegen hatten die Stadt bereits verlassen und sich in Chicago niedergelassen: Freddie Keppard etwa, Sugar Johnny Smith, Mutt Carey und Manuel Perez.
Wir befinden uns in den 1920er Jahren, in der Zeit der Prohibition in Amerika. Der Volstead Act, der den Verkauf und Genuss von alkoholischen Getränken verbot, wurde im Oktober 1919 verabschiedet und erst vierzehn Jahre später, im Dezember 1933, durch Präsident Roosevelt wieder aufgehoben. Eine trockene Zeit war es dennoch nicht – im Gegenteil: Der Alkoholhandel blühte, wurde aber wegen des Gesetzes nicht von legalen Firmen betrieben, sondern von der florierenden Unterwelt. Das Chicago Al Capones ist weder Legende noch Einzelfall: Eine Situation wie in Chicago, wo die lokale Mafia das Sagen hatte – nicht nur beim äußerst lukrativen Alkoholschmuggel und -handel, sondern auch bei der Besetzung von Posten und Pöstchen in der Stadtverwaltung, vom einfachen Polizisten bis hinauf zum Bürgermeister –, gab es damals auch in anderen Städten. Bekanntestes Beispiel ist Kansas City, wo ein korrupter Bürgermeister die Exzesse der Vergnügungsindustrie überhaupt erst ermöglichte und so ideale Entstehungsbedingungen für exzellenten Jazz schuf.
In Chicago jedenfalls fanden die schwarzen Musiker gute Arbeitsbedingungen vor. Bevor der Gangsterkrieg 1927 richtig losging, war das Leben in den Kneipen auch noch ein wenig sicherer. Danach berichteten viele Musiker von Schießereien und der vertraglichen Verpflichtung, bei solchen Störungen auf jeden Fall weiterzuspielen. Auch das Unterhaltungsgewerbe begann unter den Bedingungen zu leiden, was genauso ein Grund für die Übersiedlung vieler Musiker nach New York war wie zuvor die Schließung des Storyville-Viertels in New Orleans ein Grund für den Umzug nach Chicago.
Joe »King« Oliver
Als Oliver 1918 in der Windy City ankam, wartete tatsächlich Arbeit auf ihn. Er spielte gleichzeitig in den Bands des Klarinettisten Lawrence Duhe und des Bassisten Bill Johnson und gründete 1920 seine eigene Band, mit der er im Dreamland Café, einem bekannten Tanzschuppen der Stadt, auftrat. Die Besetzung dieser Band entsprach im Großen und Ganzen bereits der, mit der er 1923 seine ersten und erfolgreichsten Schallplattenaufnahmen machte. Die Musiker aus New Orleans hielten in Chicago zusammen, und fast alle Musiker seiner Band waren wie er aus Lousiana in den Norden gekommen: der Posaunist Honore Dutrey, der Klarinettist Johnny Dodds, der Kontrabassist Ed Garland und der Schlagzeuger Minor »Ram« Hall. Nur die Pianistin Lil Hardin stammte aus Memphis, sie war nach einem Musikstudium an der Fisk University 1917 nach Chicago gelangt und arbeitete dort für Notenverlage. Es gab damals noch den Beruf des »song plugger«, bei dem Pianisten die neuesten Notenhits eines Verlags interessierten Kunden vorspielten und/oder sangen, um sie vom Kauf zu überzeugen.
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