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standen vor einem großen Aufnahmetrichter, der mit einer Nadel verbunden war. Die Vibrationen der Luft sorgten dafür, dass diese Nadel in einen rotierenden Wachszylinder oder eine rotierende Wachsplatte einen vertikalen Schnitt machte, dessen unterschiedliche Tiefe der Schwingungsfrequenz und Amplitude des gespielten Tons und Klangs entsprach. Mit der Zeit wurde die Aufnahmetechnik immer professioneller: In einer Abhandlung über die Geschichte der Schallplatte heißt es:
Das Klavier steht aus schalltechnischen Gründen auf einem Podest; mehrere große und kleine Aufnahmetrichter ragen in den Raum, der einen ziemlich kahlen Eindruck vermittelt. Von der Aufnahmemaschine, die im Nebenraum steht, ist nichts zu sehen: Die Laufgeräusche sollen nicht ›mitgeschnitten‹ werden. […] Die Dynamik, d. h. Lautstärke und Brillanz einer Schallplatte, sind abhängig von der Anordnung der Instrumentengruppen während der Aufnahmesitzung. Eine Korrektur der einmal geschnittenen Matrize ist nicht möglich.45
Erst ab etwa 1925 wurden elektrische Aufnahmeverfahren zum Studiostandard, die ein wesentlich größeres Frequenzspektrum garantierten, die Töne natürlicher und voller aufzeichneten.
Für Jazzmusiker war die elektrische Aufnahmetechnik vor allem auch deshalb von Bedeutung, weil sie nun in ihren tatsächlichen Bandbesetzungen ins Studio gehen konnten. Bei mechanischen Aufnahmen wurden die Bandmitglieder in festgelegten Abständen zum Aufnahmetrichter aufgestellt. Der Posaunist George Brunis bei den New Orleans Rhythm Kings etwa musste auf eine seitliche Wand blasen, der Schlagzeuger Baby Dodds durfte auf King Olivers Aufnahmen von 1923 meist gerade mal auf Holzblöcken und den Rändern von Snare und Bass Drum spielen. Kontrabässe und Klavierbegleitungen gingen bei solchen Aufnahmen meist ganz unter, weshalb die Bassstimme oft von Tuba oder Basssaxophon übernommen wurde.
King Olivers Band war in Hochform. Die Musiker hatten zwei Jahre lang im Lincoln Gardens gespielt und kannten ihr Repertoire in- und auswendig. Die gut zwei Dutzend Takes führten schließlich zu neun veröffentlichten Titeln, darunter gleich einige der hörenswertesten Einspielungen dieser Besetzung, der ›Dippermouth Blues‹ etwa, ›Froggie Moore‹, ›Chimes Blues‹ oder ›Weatherbird Rag‹. Die restlichen alternativen Takes sind nie veröffentlicht worden, die Masterplatten wurden Ende der 1920er Jahre vernichtet. Die Besetzung besteht aus Oliver und Armstrong, Kornett; Honore Dutrey, Posaune; Johnny Dodds, Klarinette; Lil Hardin, Klavier; Bill Johnson, Banjo; und Baby Dodds, Schlagzeug. Ein Kontrabass ist nicht zu hören. Lil Hardin erzählte später von der Aufnahmesitzung:
Wir mussten alle in diesen großen Trichter spielen. Joe und Louis standen nebeneinander, wie sie das immer taten, aber man konnte keinen Ton von Joe hören, nur Louis. Dann meinten die: ›Da müssen wir was ändern‹, und positionierten Louis etwa viereinhalb Meter weiter weg in die Ecke.46
Die Anekdote wurde oft wiederholt; ob sie stimmt, ist durchaus fraglich: Armstrong war damals schon Profi genug, seinen Ton der Situation anpassen zu können.
Die Musik dieser Aufnahmen zeigt den Geist des kollektiven Zusammenspiels. ›Just Gone‹ etwa ist ein vollständig im Kollektiv der Band gespieltes Stück, kein Solo, nicht einmal ein kurzer Solobreak, wie sie im frühen kollektiven Jazz sonst oft eingesetzt werden, um die Spannung aufzufangen, die sich in den Takten zuvor aufgebaut hatte. Olivers Musiker kommen sich so gut wie nie in die Quere. Die Aufgabenteilung der Melodieinstrumente – Lead-Kornett, harmonisierende Begleitung der Leadstimme durch das zweite Kornett, Grundierung durch die Posaune, Umspielung im hohen Register durch die Klarinette – ist vorgegeben, und doch wechselt immer wieder die Führung ab. Wenn man den beiden Kornettisten lauscht, meint man die räumliche Entfernung der beiden hören zu können, von der Hardin berichtete. Oliver spielt selbstbewusst, Armstrong darf harmonische Zweitstimmen intonieren, oft nicht mehr als lang gehaltene Harmonietöne, die halb- oder ganztaktig wechseln. Er erfindet aber immer wieder auch kleine Melodien, wie Kontrapunkte zur Leadstimme, die andeuten, wohin es einmal mit ihm gehen wird, schnelle Umspielungen des Themas, rhythmisch mutig, harmonisch die Grundlage ausweitend. Oft füllt er Phrasenenden auf, spielt sogenannte »fills« am Ende von Phrasen Olivers und entspricht damit seinem Part im Ruf-Antwort-Schema, das man in der afroamerikanischen Musik so oft findet. Häufig erzeugt seine Stimme ganz bewusste Dissonanzen zur Kornettstimme Olivers, die aber immer gleich wieder aufgelöst werden.
Im ›Canal Street Blues‹ hört man im fünften Chorus ein rhythmisch besonders mitreißendes Arrangement, in dem insbesondere die beiden Kornette harmonisch parallel gehen. Es folgt ein Klarinettensolo über einer vom Banjo gespielten Basslinie (Johnson war ja eigentlich Bassist), mit harmonischer Begleitung des Klaviers und Baby Dodds an den Holzblöcken. In ›Weatherbird Rag‹ (aber auch im ›Snake Rag‹) sind jene legendären Duo-Breaks zu hören, mit denen Armstrong und Oliver im Lincoln Gardens ihr Publikum begeisterten. Solche harmonisierten Duo-Breaks mögen eingespielte Klischees gewesen sein; ihren Ursprung hatten sie den Aussagen von Zeitzeugen gemäß aber in der Improvisation. »Joe spielte am Ende des ersten Teils, was er im Break machen wollte«, berichtet etwa der Klarinettist Buster Bailey, der Anfang 1924 mit der Band spielte. »Louis hörte zu und behielt das im Kopf, und wenn der Break dann kam, dann spielten sie den Break einfach zusammen.«47 Armstrong erzählt, dass Oliver sich zu ihm hinüberbeugte, wenn die Band in vollem Schwung war, vielleicht vier oder fünf Takte vor dem Break, und ihm auf seinem Instrument die Positionen der Töne zeigte, die er im Break spielen wollte.48 Im ›Weatherbird Rag‹ lassen sich solche Zeitzeugenberichte noch heute nachvollziehen: Der Duo-Break orientiert sich an einer chromatischen Phrase, die Oliver hier zum Ende des ersten Achttakters eines jeden Chorus spielt, unmittelbar bevor der Break den zweiten Achttakter beginnt. Das kleine Duett, das man hier hört, war sicher schon etliche Male von den beiden Kornettisten genauso gespielt worden, und doch ist es ein gutes Beispiel dafür, wie solche Breaks aus der Improvisation heraus geboren wurden. Vor allem kann man sich in ›Weatherbird‹ gut vorstellen, wie sehr das Publikum nach solchen Breaks getobt haben wird – sie sind nicht etwa zirzensische Kunststücke, sondern dramaturgische Höhepunkte eines musikalischen Ablaufs, der von Beginn bis Schluss geplant ist und im kollektiven Erspielen des Stücks immer neue Wandlungen und Steigerungen erfährt.
Neben solchen aus der Improvisation heraus geborenen Duo-Breaks gibt es übrigens auch zahlreiche, die offenbar auf Vorabsprachen basierten, quasi Teil des Arrangements waren, wie sich nachweisen lässt, wenn man die verschiedenen Aufnahmen der Stücke vergleicht, etwa in ›Sweet Lovin’ Man‹, ›Where Did You Stay Last Night? ‹, ›Sobbin’ Blues‹, ›Alligator Hop‹, ›Working Man Blues‹, ›Camp Meeting Blues‹, ›The Southern Stomps‹ oder dem ›Riverside Blues‹.
Ein kurioses Beispiel findet sich in ›I Ain’t Gonna Tell Nobody‹, aufgenommen im Oktober 1923. Es handelt sich um einen Titel, der in seiner Schmissigkeit sicher auf dem Tanzparkett gut ankam, in dem Armstrong allerdings nicht sonderlich zur Wirkung kommt. Im drittletzten Chorus jedenfalls findet sich ein weiteres Beispiel eines Duo-Breaks: Etwa bei 2: 12 Minuten hört man Oliver eine Phrase hervorheben, die gleich darauf zweimal als Duo-Break erklingt. Im vorletzten Chorus ist offenbar ein ähnlicher doppelter Duo-Break geplant, aber beim ersten der beiden (etwa bei 2: 40) ist nur ein Kornett zu hören, und statt Olivers Stimme wie zuvor in Terzparallelen zu spielen, nimmt Armstrong sie beim zweiten Break gleich danach im Unisono. Was da genau passiert war, darüber kann man nur spekulieren: Hatte Armstrong den ersten Break verpasst und wollte im zweiten auf Nummer sicher gehen, wie Brian Harker vermutet?49 Oder war das, was uns beim genauen Hinhören wie ein Fehler erscheint, für die Musiker der Creole Jazz Band gar nicht so schlimm, weil sie eh aus einer improvisatorischen Haltung heraus musizierten, in der es, sofern der Drive des Rests stimmte, auf solche Details nicht ankam?
Man denkt gerade beim frühen Jazz oft an Musiker, die vor allem improvisierten und keine Notenvorlagen benötigten. Und tatsächlich ist die Fähigkeit zum improvisatorischen Umgang mit dem musikalischen Material grundlegende Voraussetzung für diese