Black and Blue. Wolfram Knauer
Konzept. Er geht weit freier mit der Melodie um, nutzt Ansatz, Attack und vor allem auch das Vibrato seiner Tongebung, um das Solo zum Swingen zu bringen. Wer immer damals diese Aufnahmen hörte, muss sich bewusst gewesen sein, dass da ein Musiker heranreifte, der in eine ganz andere Richtung zielte als die doch sehr Ensemble-orientierte Musik seiner Kollegen: auf eine Musik, in der das Ganze, also die Bandleistung, genauso wie das Einzelne, das Solo der Musiker, einem dramaturgischen Gesamtziel unterlagen.
Armstrong betonte sein ganzes Leben lang, wie stark King Oliver ihn beeinflusst habe. Die Dämpfertechnik aber beispielsweise, für die Oliver so bekannt war, fand, von wenigen frühen Ausnahmen abgesehen (Bessie Smith’s ›Reckless Blues‹ vom Januar 1925 beispielsweise), nie wirklich ihren Weg in Armstrongs Spiel. Er variierte weniger den Sound als vielmehr die Melodie.
Armstrongs Präsenz in der Band blieb nicht ohne Folgen – auch für Oliver. Der Ältere war zwar der King, aber in den 1923 dokumentierten Aufnahmen hört man auch, dass er dem Neuen gegenüber, das Armstrong da mitbrachte, durchaus aufgeschlossen war. In ›
›Where Did You Stay Last Night‹ hatte Armstrong unter dem Titel ›Wind and Grind‹ bereits in New Orleans für die Band Kid Orys verfasst. In den beiden Fassungen des ›
Vom Oktober 1923 schließlich stammt eine Aufnahme des ›
Die Band war verständlicherweise stolz auf die von ihr eingespielten Schallplatten, und sie machte kräftig Werbung – etwa bei Straßenumzügen durch Chicago, bei denen die Band spielte und ein großes Transparent für den ›Dippermouth Blues‹ warb.60 Die Band besaß eigentlich ein großes Repertoire, hätte, wie der Schlagzeuger Baby Dodds bezeugt, ohne Probleme fünf Stunden am Stück spielen können, ohne einen Titel wiederholen zu müssen. Nach dem Beginn ihrer Plattenkarriere allerdings schränkten die Musiker das Repertoire marktgerecht ein, zum einen, weil sie auf diese Weise ihre neuen Platten promoten wollten, zum anderen, weil das Publikum eben genau nach den aufgenommenen Titeln verlangte. Viele der Stücke, die Oliver 1923 einspielte, sind Eigenkompositionen; im Lincoln Gardens mussten sie darüber hinaus sicher auch jede Menge an tagesaktuellen Schlagern spielen.
Oliver machte nicht nur für Gennett Aufnahmen, sondern auch für andere Plattenfirmen. Die ›Dippermouth Blues‹-Straßen-Bewerbung beispielsweise galt nicht der Gennett-Aufnahme vom April 1923, sondern einer Aufnahme für das Label OKeh vom 23. Juni. Es war nicht unüblich, dass Künstler für mehrere Plattenfirmen dieselben Stücke einspielten. Exklusive Plattenverträge, mit denen Künstler an ein Label gebunden werden sollten, wurden erst später üblich. Neben OKeh und Gennett kam im Oktober noch Columbia und im Dezember das Label Paramount hinzu. Diese parallele Vermarktung bot den Musikern vor allem die Chance, mehr Platten zu verkaufen und damit mehr Geld zu verdienen. Als heutige Hörer haben wir dadurch aber auch die reizvolle Gelegenheit, Stücke in mehreren Varianten zu hören, aufgenommen in unterschiedlichen Studios und unter verschiedenen Sound- und Aufnahmebedingungen. Am ausgewogensten wirken die Aufnahmen für das OKeh-Label im Juni und Oktober; in ihnen hatte der Toningenieur auch keine Probleme, den Klang des Schlagzeugs einzufangen – der Schrecken aller Toningenieure dieser frühen Zeit. Im OKeh-›Dippermouth Blues‹ jedenfalls erahnt man auch Baby Dodds’ Tom-Toms, und im OKeh-›
Oliver war nicht der einzige Musiker, der Stücke für verschiedene Plattenlabels aufnahm; insbesondere Duke Ellington ist ein gutes weiteres Beispiel dafür. Der allerdings nutzte die meisten Neuaufnahmen für Variationen im Arrangement, stellte Solo-Reihenfolgen um oder veränderte die Orchestrierung einzelner Ensemblechorusse. Oliver dagegen behielt in diesen frühen Aufnahmen zumeist das gleiche Arrangement bei – es gehörte schließlich einerseits zu seinem täglichen Standardrepertoire und andererseits war Musikern in dieser frühen Phase der Schallplattenindustrie noch lange nicht klar, dass sie ein Dokument schufen, anhand dessen ihre Kunst auch der Nachwelt erhalten und von dieser beurteilt werden würde.
Die Creole Jazz Band trat übrigens nicht nur in Chicago auf. Vom Frühjahr 1924 ist eine Rezension eines Auftritts in South Bend, Indiana, erhalten, die uns Teile ihres Konzertrepertoires überliefert: ›Dipple Mouth‹ (also ›Dippermouth Blues‹), ›High Society‹, ›St. Louis Blues‹, ›The Eccentric‹. Und dann wird da noch ein Duett vermerkt, das Armstrong mit Lil Hardin gespielt habe: ›
Vielleicht ist an dieser Stelle ein Vergleich mit Aufnahmen angebracht, die Freddie Keppard in den 1920er Jahren machte, ein Trompeter, der in Chicago als größter Konkurrent Olivers galt. Er war im Sunset Café mit einer zwölfköpfigen Kapelle zu hören, in der es mit ihm und dem Kornettisten Fats Williams eine ähnliche Konstellation gab wie in der Creole Jazz Band mit Oliver und Armstrong: Williams war für die Lead-Stimme zuständig und Keppard für den Jazz, also das spielerische Element.62 Keppard habe die höchsten Töne klar wie auf einer Flöte spielen können, erzählt Jelly Roll Morton und betont, Armstrong habe ihm in dieser Beziehung nicht das Wasser reichen können.63 Auf den erhaltenen Aufnahmen Keppards ist zumindest seine sichere Tongebung zu erleben, in ›