Black and Blue. Wolfram Knauer
auch die Fähigkeit, Noten lesen zu können. Olivers Band war gewiss kein »Brillenorchester«, seine Creole Jazz Band nutzte Notenvorlagen meistens nur als Erinnerungsstütze. Wenn es aber Noten gab, dann hatte Oliver dafür gesorgt, dass die Titel der Stücke nicht zu lesen waren, damit andere Musiker im Publikum ihm nichts abschauen konnten. Um der Band klarzumachen, welches Stück als nächstes drankam, spielte er einfach den Beginn, und der Rest stimmte ein.50 Während des Stückes gab er durch Fußstampfen Signale, etwa, um einen Break oder einen weiteren Chorus einzuzählen.51 In New Orleans hatte Oliver auf beides Wert gelegt: das Notenlesen genauso wie die Fähigkeit zu improvisieren. In der Creole Jazz Band war Johnny Dodds, heißt es, ein mäßiger Notist mit exzellentem Gedächtnis, und von Honore Dutrey ist überliefert, dass er schon mal Cello-Parts von populären Schlagern zur Hilfe nahm, wenn es keine Posaunenstimmen gab. Der Musikwissenschaftler Lawrence Gushee vermutet, dass etwa ›Sweet Lovin’ Man‹ oder zumindest die Posaunenstimme in ›Jazzin’ Babies Blues‹ (beide vom Juni 1923) von Noten gespielt wurden.52
Tatsächlich gibt es zwischen »improvisiert« und »notiert« allerdings eine Reihe an Zwischenstufen. Im Jazz spricht man beispielsweise von »Head Arrangements«, wenn Arrangements nicht niedergeschrieben, sondern von den Musikern so verinnerlicht werden, dass sie auch ohne Noten den gleichen Ablauf, die gleichen Stimmen spielen. Solche Head Arrangements sind insbesondere in den blueslastigen Bigband-Arrangements etwa des Orchesters von Count Basie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren üblich gewesen, in dem sich ursprünglich improvisatorisch erfundene Riffs in der Erinnerung der Musiker zu Head Arrangements verfestigten. Nicht anders wird es bei Oliver gewesen sein, dessen Band ihr Repertoire ja bereits seit zwei Jahren Abend für Abend im Lincoln Gardens gefestigt hatte – da bedurfte es für die Plattenaufnahme keiner Niederschrift, sondern allerhöchstens einer klaren Absprache, was die Länge und den genauen Ablauf der Einspielung betraf.
Solche Head Arrangements also entstanden in der Absprache zwischen den Bandmitgliedern. Man kann sich das ganz bildlich vorstellen: Armstrong oder Oliver bringen ein Thema mit, sagen den Musikern, wie sie sich den Ablauf etwa vorstellen.
Lass uns alle zusammen anfangen, eine Einleitung, zweimal das erste und zweimal das zweite Thema. Lasst uns im B-Teil Breaks einbauen, und zwar jeweils zum Ende der beiden Achttakter, also in Takt 7 und 8 sowie 15 und 16. Dann kommt ein Kornettsolo über das zweite Thema. Noch einmal das erste Thema und schließlich eine kurze Coda.
Wer immer das Stück mitbrachte, spielte die Melodie auf seinem Instrument vor. Die anderen Bläser probierten verschiedene Melodien aus, die darüber oder darunter passten. Dann gab es einen ersten Durchgang. Man diskutierte den Verlauf, mögliche melodische oder harmonische Alternativen. Man hörte aufeinander und sprach darüber, damit man sich bei all dem kollektiven Zusammenspiel nicht in die Quere kam. Am Ende der Probe stand ein Grundgerüst des Stücks, das in den nächsten Tagen noch verfeinert, aber im Großen und Ganzen nicht mehr abgeändert wurde.
Hört man sich insbesondere die Titel an, von denen es mehr als eine Aufnahme gibt, dann wird das Prozedere schnell deutlich: Einige der Stimmen scheinen identisch zu sein, und die berühmten Duo-Breaks von Armstrong und Oliver sind klar vorab geplant. Man findet teilweise notengetreue Übereinstimmungen in quasi allen Bläserstimmen, und zwar auch in Partien, die im ersten Höreindruck völlig improvisiert scheinen. Die Übergänge zwischen Komposition, Head Arrangement und Improvisation sind also tatsächlich fließend. Die wirkliche Improvisation betrifft oft nur Kleinigkeiten, Verzierungen, Variationen, Details, nicht aber den Formablauf als solchen.
Auf der Bühne war die Situation übrigens eine komplett andere. Im ›Tiger Rag‹ etwa oder im ›Dippermouth Blues‹ habe es, wird berichtet, bei Konzerten schon mal elf oder zwölf Solochorusse gegeben.53 Der Trompeter Wild Bill Davison erzählt, er habe Oliver und Armstrong 125 Chorusse über den ›Tiger Rag‹ spielen hören.54 Und Preston Jackson weiß von 50 Chorussen mit unzähligen hohen Cs und am Ende dem F darüber.55 Der Schlagzeuger George Wettling erinnert sich an ein fünfundvierzigminütiges ›High Society‹, doch mag ihm da die Erinnerung vielleicht doch einen Streich gespielt haben.56 Auf jeden Fall stand dort nirgends ein Tontechniker, der bei etwa 2:45 Minuten ein Zeichen gab, damit die Musiker wussten, dass sie zum Schluss kommen mussten. Im Konzert war es möglich, noch einen Chorus dranzuhängen. Und in New Orleans spielte man gewiss auch tagesaktuelle Schlager länger als drei Minuten. Von 1951 stammt etwa eine Dokumentaraufnahme der Eureka Brass Band, in der sie George Gershwins ›
Olivers Glanzstück der ersten Aufnahmesitzung ist der ›
Die Aufnahmesitzung aber enthält auch die ersten Soli des jungen Louis Armstrong. Im ›
Es wird oft und gern darauf hingewiesen, dass Armstrong aus der kollektiven Faktur des New-Orleans-Ensembles eine Solokunst geschaffen habe, dass er (zusammen mit Bechet und wenigen anderen) der erste große Solist des Jazz gewesen sei. Das ist sicher richtig, und doch sollte man nicht vergessen, dass er diese solistische Meisterschaft aus dem Geist des Kollektivs im New Orleans Jazz heraus entwickelt hatte, aus dem Wissen um die harmonischen Funktionen in der Band, um die Bedeutung der Stimmen im Vokalquartett. Der Autor Thomas Brothers hat das treffend umschrieben: Armstrong habe »die Kraft und den Reichtum kollektiver Improvisation in einer einzigen Linie« zusammengefasst.58 Man hört das bereits in einigen seiner frühen Soli, im ›Chimes Blues‹ mit Oliver etwa, in dem er Melodie- und Harmoniestimme quasi nacheinander spielt, im Vertrauen darauf, dass die Harmoniestimme im Gedächtnis des Hörers die Melodiestimme ergänzt. Wer Armstrongs Musik einzig als intuitiv erzieltes Ergebnis eines natürlichen Talents beschreibt, tut ihm nämlich Unrecht. Zur Kunst gehörte auch bei Armstrong das Wissen um Stimmführung, um harmonische Spannung, um Kadenzen und um die Wirkung von Dissonanzen und ihrer Auflösung. Armstrong mag kein Musiktheoretiker gewesen sein, aber er wusste genau, wie er all solche Techniken einzusetzen hatte, um die besten Effekte zu erzielen. Wie er das alles gelernt habe, fragte ihn Richard Hadlock später, und Armstrongs Antwort lautete: »Ich denke, Singen und Spielen ist dasselbe.«59 Er wusste genau, was er dem Vokalquartett seiner Jugend zu verdanken hatte. Er selbst hätte seine Spielweise nie als »analytisch fundiert« beschrieben, aber ein Chorus wie jener über den ›Chimes Blues‹ von 1923 ist anders als durch ein analytisches Bewusstsein für den musikalischen Prozess gar nicht zu erklären.
Am eindrucksvollsten aber ist Armstrong in ›