Black and Blue. Wolfram Knauer
Kirchengemeinden als wichtige Vorformen der afroamerikanischen Musik des 20. Jahrhunderts angesehen. Eine gewisse Archaik schwingt in ihnen mit, aber zugleich versuchten die Verkäufer auch etwas von ihrer eigenen Persönlichkeit in diese Ausrufe zu legen, weil sie ja Aufmerksamkeit erregen und die Konkurrenz übertönen sollten. »Stone cole, ladies, five cents a water bucket« also sang Louis Armstrong, seine Hände wie ein Sprachrohr an den Mund gelegt. Es gibt Feldaufnahmen solcher »street cries«, die in Intonation und Ausdruck ihre Verwandtschaft zum Blues deutlich machen.
Für Armstrong waren diese Klänge so vertraut wie die Dampforgel der Mississippi-Schaufelradboote. Mit einigen Freunden gründete er ein Vokalquartett, mit dem sie in der damals üblichen Barbershop-Manier auf der Straße auftraten. Das war damals nichts Außergewöhnliches; man konnte durchaus in einer Bar oder eben im Friseursalon (barber shop) Männer in vierstimmigen Gesang ausbrechen hören. Der Barbershop-Gesang war eine populäre Tradition, die insbesondere in den amerikanischen Südstaaten auch bei Afroamerikanern gepflegt wurde. Es handelt sich dabei um eine Art improvisierten Harmoniegesang, bei dem der erste Tenor (lead) die Melodie singt, der zweite Tenor einen Harmonieton darüber, der Bass die harmonische Basis legt und der Bariton die Harmonie auffüllt, mal unter-, mal oberhalb der Melodiestimme. Die Improvisation findet dabei also weniger in der Melodieerfindung statt als vielmehr im Entstehen immer neuer, spannender, »schöner« Zusammenklänge. Das ist durchaus vergleichbar den Gesangstraditionen in der schwarzen Kirche, nur konnten die Sänger im Quartett, im dichten Aufeinander-hören, noch viel weiter in ihren harmonischen Experimenten gehen als dies im Chor der Kirchengemeinde möglich gewesen wäre. Noch heute kann man die Tradition des Barbershop-Gesangs erleben, auf der Bühne genauso wie ab und an und nicht weniger improvisiert als zu Armstrongs Zeiten in der U-Bahn von New York oder Chicago.
Mit seinen Sängerfreunden ging Louis besonders gern ins Rotlichtviertel der Stadt, wo er von Zockern und Zuhältern bezahlt wurde, die die schwarzen Jungs als akustische Werbung für ihre jeweiligen Aktivitäten benutzten. Später erinnerte er sich an seine damals noch helle Stimme, mit der er den Tenorpart übernommen habe. Außerdem habe er die Slide Whistle (Kolbenflöte) gespielt,
ganz wie eine Posaune. Ich konnte die einzelnen Tonpositionen darauf genau fühlen. […] Nachdem wir gesungen hatten, reichten wir den Hut herum. Manchmal kriegten wir so einen ganzen Dollar am Abend. Meine Mutter, die die Wäsche einer weißen Familie in einer Zinnwanne über einem heißen Kohlenfeuer im Hof der Familie auf der Canal Street wusch, kriegte nicht mehr als einen Dollar am Tag. Das war gutes Geld damals.15
Für Armstrong war diese Quartetterfahrung jedenfalls eine wichtige musikalische Schule. Hier lernte er, auf andere zu hören. Hier lernte er, mit der Bluestonalität kreativ umzugehen. Hier lernte er, wie wichtig der Einsatz auch schauspielerischer Fähigkeiten sein konnte, um sein Publikum zu begeistern. Hier lernte er, wie man eine Melodie sicher phrasierte; hier lernte er eine Begleitstimme zu entwickeln, die harmonisch zur Melodie des Songs passt; hier lernte er eine Art der Intonation, die tief in afroamerikanischer Erfahrung verankert war. Vor allem aber lernte er, improvisatorisch im Ensemble seinen eigenen Ton zu finden, einen Ton, der sich in das Zusammenspiel aller einpasste und den Ensemblesound dabei in der entstehenden harmonischen Spannung über die Stimme des Einzelnen erhob. Man hört all diese Lehren in Armstrongs Musik, in seinen Aufnahmen mit Joe King Oliver, in denen ihm als zweitem Kornettisten eine oft ganz ähnliche Aufgabe des harmonischen Auffüllens zukam, in seinen Hot-Five- und Hot-Seven-Aufnahmen der späten 1920er Jahre, in denen er um die notwendige Abwechslung des Bandklangs im Verlauf der Stücke wusste. Und insbesondere hört man sie in seinen Vokalaufnahmen spätestens ab Anfang der 1930er Jahre, in denen er all diese Erinnerungen an die Straßen von New Orleans in eine kunstvolle wie ursprüngliche Interpretation einfließen ließ.
Colored Waif’s Home for Boys
Am 1. Januar 1913 feierte Louis das Neue Jahr gemeinsam mit seinen Freunden und sang mit ihnen auf der Straße. Um Mitternacht gab es Feuerwerk: Die Leute feuerten mit allem, was sie hatten, auch mit Pistolen und Flinten. Armstrong hatte sich den 38er-Revolver seines Vaters stibitzt und schoss sechsmal in die Luft. Er wurde wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Ruhestörung über Nacht ins Kittchen gesteckt und am nächsten Tag ins Erziehungsheim für Farbige, ins »Colored Waif’s Home for Boys«. Diese Strafe war zugleich ein Glücksfall für Armstrong – nicht unbedingt weil er Manieren und gesellschaftliche Normen beigebracht bekam, sondern vor allem weil er hier seinen ersten formalen Musikunterricht erhielt.
Der Leiter des Heims, Joseph Jones, hatte um 1911 einige alte Instrumente gekauft – zwei Hörner, eine Piccoloflöte, ein Baritornhorn, eine Trommel und ein Signalhorn – und kurz darauf die erste Band seiner Anstalt gegründet. Es gab Vorbilder für solche Heimkapellen. So hatte in Charleston, South Carolina, Reverend Daniel Joseph Jenkins 1891 das Jenkins-Waisenhaus gegründet und bald darauf zwei professionelle Musiker angeheuert, die den Kindern Musikunterricht geben sollten. Er war sich sicher, dass dieser Unterricht und die Bandpraxis den Kindern Disziplin beibringen würden, und als Nebeneffekt sammelte die Truppe Geld fürs Waisenhaus. Die Jenkins Orphanage Band jedenfalls tourte bald die ganze Ostküste der Vereinigten Staaten entlang und war später sogar in Europa zu hören.
Ob Jones von Jenkins’ Bemühungen wusste, ist nicht bekannt, jedenfalls gewann er 1912 den Hornisten Peter Davis, der einige Brass-Bands in der Stadt gecoacht hatte, als Lehrer für Instrumentalunterricht. Davis leitete zugleich die Band, den Chor und das Gesangsquartett des Heims. Er war anfangs skeptisch und sah in Armstrong lediglich einen weiteren jugendlichen Straftäter, von dem nichts als Ärger zu erwarten war. Zugleich aber glaubte er an die positive und pädagogische Kraft der Musik und ermutigte seine Schützlinge, zu einem Instrument zu greifen. Armstrong maulte zuerst, ließ sich dann aber doch zum Tamburin überreden. Wenig später gab ihm Davis ein Althorn, mit dem er immer nur »umpah, umpah« machen musste, und schließlich ein Kornett, auf dem er bald das Wecksignal, den Zapfenstreich und Ähnliches spielen konnte. Als der andere Kornettspieler der Band entlassen wurde, brachte Davis ihm bei, die Melodie von ›Home Sweet Home‹ zu intonieren. Zuvor habe Louis nie ein Instrument in der Hand gehabt, erinnerte sich Davis in einem Interview fast dreißig Jahre später.16 Es muss eine Art natürliches Talent gewesen sein, oder um Armstrong selbst sprechen zu lassen: »Ich hatte schließlich mein ganzes Leben lang gesungen, und ich sagte mir, dass ein Althorn auch nur ein Instrument ist, das im Duett mit der Brassband singt, genauso wie eine Bariton- oder Tenorstimme dies im Quartett tat.«17
Davis jedenfalls fand Armstrongs Talent so vielversprechend, dass er ihm ab und zu Privatstunden gab. Der Schlagzeuger Paul Barbarin erinnerte sich später, Armstrong mit der Heimkapelle gehört zu haben: »Er stach heraus unter den anderen. Sein Ton war selbst als Kind schon mächtig.«18 Zutty Singleton sah ihn etwa zur selben Zeit und erinnert sich:
Wir sind extra nah rangegangen, um zu sehen, ob er diese Töne auch wirklich selbst spielt. Wir konnten einfach nicht glauben, dass er in so kurzer Zeit so gut zu spielen gelernt hatte. Ich weiß es noch genau, er spielte ›Maryland, My Maryland‹. Und wie er diese Melodie nahm, das swingte wie wild.19
Aber nicht nur Zeitzeugen erinnern sich an Armstrong, auch die Lokalzeitung hebt ihn in einem Artikel vom 31. Mai 1913 heraus, nennt ihn gar den »Leiter der Band«. Gemeint ist damit wohl eher die Rolle des Zeremonienmeisters, des Grand Marshalls, der vor der Band hermarschierte und das Publikum anfeuerte. Armstrong hatte nämlich bereits ein Gespür dafür entwickelt, was Wirkung erzielte: Er lief schon mal zum Scherz mit nach außen gestellten Füßen oder brach in wilde, komische Tänze aus. »Wir spielten ziemlich gut«, erinnerte sich Armstrong später, »natürlich nicht wie Joe Oliver und Manuel Perez in der Onward Band. Aber wir spielten regelmäßig für die Social Clubs.«20
Diese Social Clubs in New Orleans waren sowohl Treffpunkt als auch Freundeskreis und eine Art soziales Netzwerk, insbesondere für die afroamerikanische Bevölkerung. Man traf sich regelmäßig, feierte zusammen, organisierte Paraden, nahm geschlossen an den Mardi-Gras-Umzügen teil und engagierte für all dies gerne auch Bands, wenn man nicht sogar eine eigene Brassband hatte, die mit Uniform und Schirmmütze und den Insignien des Vereins durch die Straße zog. Die Social Clubs bereiteten ihren verstorbenen Mitgliedern große Begräbnisse mit Trauermusik auf dem Weg zum Friedhof und fröhlicher Musik auf