Du wartest jede Stunde mit mir. Dietrich Bonhoeffer
erster Auszug aus dem Brief Bonhoeffers vom 21.7.1944 wurde bereits 1945, also unmittelbar nach dem Krieg, unter der Überschrift „Diesseitigkeit des Christentums“ vom Ökumenischen Rat in Genf veröffentlicht.3 Sechs Jahre später, 1951, publizierte Bonhoeffers Freund und theologischer Gesprächspartner Eberhard Bethge (1909–2000) eine erste Sammlung der Briefe unter dem Titel „Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft“. „Widerstand und Ergebung“ enthielt neben Bonhoeffers Briefen an seine Eltern und an Eberhard Bethge auch dessen im Gefängnis entstandenen Texte, Gedichte und Gebete. Die Briefe waren z. T. stark gekürzt. Privates wurde, wenn möglich, weggelassen. Persönliche Angaben wurden nicht näher erläutert. Darum wurden auch die Namen mit Initialen belassen. Das Inhaltsverzeichnis sprach von Briefen an „einen Freund“, ohne zu verraten, wer sich dahinter verbarg. Auch die Eltern wurden nicht namentlich genannt. Stattdessen hieß es im Inhaltsverzeichnis lediglich: „Briefe an die Eltern“. Neben den Antwortbriefen der Adressaten fehlte vor allem der Briefwechsel Bonhoeffers mit seiner Verlobten Maria von Wedemeyer. In einer erweiterten Neuauflage von „Widerstand und Ergebung“ wurden im Jahr 1970 nicht nur die Briefe meist ungekürzt abgedruckt, sondern auch die Antwortbriefe mitveröffentlicht. Die Brautbriefe von Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer erschienen 1992 nach dem Tod der Verlobten als eigenständiges Buch: „Brautbriefe Zelle 92“.4 1998 schließlich wurde im Rahmen der „Dietrich Bonhoeffer Werke“ unter dem gleich gebliebenen Titel „Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft“ eine neu durchgesehene und vervollständigte Gesamtausgabe der Briefe von und an Bonhoeffer aus dem Gefängnis publiziert (weiterhin mit Ausnahme der Brautbriefe).5 Sie enthielt auch die meisten übrigen, in der Haft entstandenen Texte Bonhoeffers.6
Die Briefsammlung im vorliegenden Buch kehrt in mancher Hinsicht zurück zur Erstausgabe der Bonhoeffer-Briefe von 1951, die ihn weltberühmt gemacht hat. Allerdings mit einer gravierenden Ausnahme: Es werden erstmals Bonhoeffers Briefe an seine Verlobte Maria von Wedemeyer im selben Buch mitveröffentlicht.7 In chronologischer Reihenfolge kommen in diesem Band ausschließlich die Briefe Bonhoeffers – jetzt ungekürzt – zum Abdruck, und zwar nur die an die Eltern, die Verlobte und an den Freund. Die Briefe der Eltern Bonhoeffers, der Verlobten Maria von Wedemeyer und des Freundes Eberhard Bethge sind noch nicht gemeinfrei und können deswegen nicht mit abgedruckt werden. Allerdings waren es die Gedanken Bonhoeffers, die „Widerstand und Ergebung“ zum religiösen Klassiker werden ließen.8 Sie treten komprimierter vor Augen, wenn man – wie in dieser Ausgabe – nur Bonhoeffers eigene Briefe liest.
Dabei unterscheiden sich die Briefe an die Eltern, an die Verlobte und an den Freund nicht nur in inhaltlicher Hinsicht: In den Briefen an Eberhard Bethge nehmen theologische Überlegungen einen weitaus größeren Raum ein. Darüber hinaus muss beachtet werden, dass die Briefe an die Verlobte, von Ausnahmen abgesehen, und an die Eltern den offiziellen Weg durch die Zensur nahmen, während die Briefe an Bethge an der Zensur vorbei auf konspirative Weise gelangten – vermittelt über Gefängniswärter, deren Vertrauen Bonhoeffer gewonnen hatte. Allerdings ist diese Unterscheidung insofern wieder zu relativieren, als Bonhoeffer sich nicht scheute, auch an die Eltern und die Verlobte persönliche Dinge zu schreiben, während er umgekehrt bei den konspirativen Briefen immer damit rechnen musste, dass sie in die Hände der Gestapo gelangten.
Nach einer zehntägigen Kontaktsperre am Beginn der Haft durfte Bonhoeffer am 14.4.1943 den ersten Brief an seine Eltern schreiben. Der Briefwechsel dauerte bis zum April 1944 (bis zu diesem Zeitpunkt ist er jedenfalls erhalten geblieben). Erst aus dem Dezember 1944 und Januar 1945 sind, wie bereits erwähnt, nochmals zwei kurze Briefe an die Eltern vorhanden. Der Briefwechsel mit der Verlobten beginnt mit dem Brief vom 30.7.1943. Fortan durfte Bonhoeffer offiziell alle vier Tage schreiben. Er wechselte jeweils zwischen der Verlobten und den Eltern ab. Der letzte Brief an die Verlobte stammt vom 19.12.1944, dem auch das Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“ beigelegt war. Der erste konspirative Brief an Eberhard Bethge stammt vom 20.–23.11.1943, der letzte vom 23.8.1944. Die danach noch geschriebenen Briefe Bonhoeffers an Bethge hat dieser angesichts der drohenden eigenen Verhaftung durch die Gestapo vernichtet.9 Die übrigen Briefe an Bethge haben den Krieg in Gasmaskenbüchsen überdauert. Sie waren im Garten des Hauses der Eltern von Eberhard Bethges Frau Renate geb. Schleicher in der Berliner Marienburger Allee 42, dem Nachbarhaus der Eltern Bonhoeffers, vergraben.
Eigenart
Charakteristisch für Bonhoeffers Briefe ist die Verbindung von persönlichen Mitteilungen und theologischen Überlegungen auf hohem intellektuellem Niveau. Das gilt vor allem für die Briefe an Bethge. Äußerlich erkennbar wird die Verbindung an der Tatsache, dass Bonhoeffer im Originalbrief zuweilen zwei unterschiedliche Schriftarten verwendet hat: Im Rahmen theologischer Überlegungen kann er unwillkürlich von der lateinischen in die – für andere beinahe unlesbare – deutsche Schrift wechseln. In den Briefen an die Eltern steht deren Ergehen angesichts der zunehmenden Bombardierungen Berlins und die Verbundenheit miteinander im Vordergrund. Die Briefe an die Verlobte thematisieren naturgemäß die gemeinsame Zukunft und die Liebe zueinander, aber auch theologische und spirituelle Fragen und solche des literarischen Geschmacks.
Dass Briefe den wesentlichen Teil eines Lebenswerks bilden, ist im Verlauf der Literaturgeschichte immer wieder vorgekommen. Aus dem Umkreis der Lektüre Bonhoeffers ist hier an Theodor Fontane zu erinnern, dessen Briefe von ihrer literarischen Bedeutung her gleichberechtigt neben seinem Romanwerk zu stehen kommen.10 In theologischer Hinsicht gilt das natürlich zuallererst für die Briefe des Apostels Paulus im Neuen Testament. Der Vergleich der Briefe Bonhoeffers mit denen des Apostels drängt sich geradezu auf. Paulus hat, ausgehend vom antiken Briefformular, mit ihnen sogar eine eigene Briefgattung überhaupt erst geschaffen. Bis dahin war es nicht üblich, derart lange Briefe zu verfassen. Dabei zeichnen sich auch die Briefe des Paulus durch die Verknüpfung von theologischen Überlegungen und persönlichen Mitteilungen aus. Es handelt sich bei ihnen also nicht um abstrakte theologische Abhandlungen. Stattdessen sind es allesamt anlassbedingte Gelegenheitsschriften. Das gilt sogar für den Römerbrief, in dem Paulus bei der ihm persönlich nicht bekannten Gemeinde in Rom seine theologische Visitenkarte abgibt, um die Gemeinde als Unterstützerin für die von ihm geplante Missionsarbeit in Spanien, dem Westen des Römischen Reiches, zu gewinnen. Schon bei Paulus bedingen sich Theologie und Biografie wechselseitig. Dazu kommt noch eine weitere Gemeinsamkeit mit den Bonhoeffer-Briefen: Manche Briefe des Apostels sind im Gefängnis geschrieben. Das Gefängnis wurde für Paulus zum fruchtbaren Ort theologischer Erkenntnis.
Natürlich waren Bonhoeffer die Briefe des Paulus durch Studium und kontinuierliche Bibellektüre gut bekannt. Auch Bonhoeffer wurde im Gefängnis theologisch kreativ. Schon in „Nach zehn Jahren“ schrieb er – nur wenige Wochen vor seiner Inhaftierung: „Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, dass wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden sehen gelernt haben […], dass das persönliche Leiden ein tauglicherer Schlüssel, ein fruchtbareres Prinzip zur betrachtenden und tätigen Erschließung der Welt ist als persönliches Glück.“11 Während der Haft hat sich diese Perspektive von unten für Bonhoeffer noch einmal forciert. Gerade sie wird jetzt zum fruchtbaren Erkenntnisprinzip. Im Briefwechsel mit Eberhard Bethge erfolgt ein regelrechter Ausbruch an Kreativität.12
Dazu kommt noch etwas anderes. Die Briefform entspricht genau – anders als die großen theologischen Werke der Vorfahren Bonhoeffers – dem Fragmentarischen seines Lebens insgesamt. Er musste im Gefängnis nämlich erkennen, dass er – anders als sein Vater und seine übrigen Vorfahren – einmal kein „geistiges ‚Lebenswerk‘“13 hinterlassen würde: „Wo gibt es noch die schöne Zwecklosigkeit und doch die große Planung, die zu einem solchen Leben gehört? […] Unsere geistige Existenz aber bleibt dabei ein Torso.“ Über dieser Einsicht wird er „fast etwas wehmütig“ gestimmt. Dann aber erkennt er den Wert, den auch ein fragmentarisches Leben bzw. ein Fragment bleibendes Lebenswerk gewinnen kann: „Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unsres Lebens