Du wartest jede Stunde mit mir. Dietrich Bonhoeffer

Du wartest jede Stunde mit mir - Dietrich Bonhoeffer


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der ‚Glaube‘ ist etwas Ganzes, ein Lebensakt. Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum Leben.“52 Bonhoeffer hat scharfsichtig erkannt, dass die (bürgerliche) Religion getrennt von der Alltagswirklichkeit bleibt. Sie erlaubt höchstens die Rede von Gott in den Grenzsituationen des Lebens. Ihre Bedeutung ist mit der Sahne auf dem Kakao vergleichbar: durchaus entbehrlich. Bonhoeffer dagegen wollte „von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen“.53 Nicht Rückzug, liberale Reduktion des christlichen Glaubens, sondern „die Inanspruchnahme der mündig gewordenen Welt durch Jesus Christus“,54 dem sie ohnehin gehört, war sein Ziel. Das Wort Gottes regiert!55 Das hat Bonhoeffer als Theologe, Christ und Zeitgenosse selbst vorgelebt. Sein Engagement für Kirche und Gesellschaft bis zum Märtyrertod zeigt, dass er sich nicht ins Getto zurückgezogen, sondern als Christ in der Welt bewährt hat. Genauso wenig verfiel er in einen gottvergessenen Aktivismus, sondern wartete „aktiv“ auf das Kommen des Reiches Gottes. Bonhoeffer ist damit Theologie und Kirche immer noch voraus. Indem er die Gültigkeit der biblischen Aussagen voraussetzte, hat er einen verheißungsvollen Weg in die Zukunft eröffnet, den jede Generation auf ihre Weise gehen muss.

       Für eine weitere Einführung von Peter Zimmerling in das Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers finden Sie im Internet:

       •Stationen auf dem Weg zur Freiheit: Dietrich Bonhoeffers Leben

       www.brunnen-verlag.de/

      peter-zimmerling-dietrich-bonhoeffers-leben

       •Stationen auf dem Weg zur Freiheit: Dietrich Bonhoeffers Werk

       www.brunnen-verlag.de/

      peter-zimmerling-dietrich-bonhoeffers-werk

       1. An Karl und Paula Bonhoeffer

      14. April 1943

       Liebe Eltern!

      Vor allem müsst Ihr wissen und auch wirklich glauben, dass es mir gut geht. Leider kann ich es Euch erst heute schreiben, aber es war wirklich die ganzen zehn Tage so. Was man sich gewöhnlich bei einer Haft als besonders unangenehm vorstellt, also die verschiedenen Entbehrungen des äußeren Lebens, das spielt merkwürdigerweise tatsächlich fast gar keine Rolle. Man kann sich auch mit trocken Brot morgens satt essen – übrigens gibt es auch allerlei Gutes! – und die Pritsche macht mir schon gar nichts aus und schlafen kann man von abends 8 bis morgens um 6 Uhr reichlich. Besonders überrascht hat es mich eigentlich, dass ich vom ersten Augenblick an so gut wie nie Verlangen nach Zigaretten hatte; ich glaube eben doch, dass bei all diesen Dingen das Psychische die entscheidende Rolle spielt; eine so starke innere Umstellung, wie sie eine so überraschende Verhaftung mit sich führt, die Nötigung, sich innerlich zurecht- und abzufinden mit einer völlig neuen Situation – das alles lässt das Körperliche völlig zurücktreten und unwesentlich werden; und das empfinde ich als eine wirkliche Bereicherung meiner Erfahrung. Alleinsein ist für mich ja nicht etwas so Ungewohntes wie für andere Menschen und ist sicher ein gutes seelisches Dampfbad. Quälend ist oder wäre nur der Gedanke, dass Ihr Euch um mich ängstigt und quält, dass Ihr nicht richtig schlaft und esst. Verzeiht, dass ich Euch Sorgen mache, aber ich glaube, daran bin diesmal weniger ich als ein widriges Schicksal schuld. Dagegen ist es gut, Paul-Gerhardt-Lieder zu lesen und auswendig zu lernen, wie ich es jetzt tue. Übrigens habe ich meine Bibel und Lesestoff aus der hiesigen Bibliothek, auch Schreibpapier jetzt genug. Nun könnt Ihr Euch denken, dass mir meine Braut in dieser Zeit ganz besonders leidtut. Es ist viel für sie, nachdem sie Vater und Bruder erst kürzlich im Osten verloren hat. Als Offizierstochter wird sie vielleicht besonders schwer an einer Verhaftung tragen. Wenn ich ihr doch ein paar gute Worte sagen könnte. Nun werdet Ihr es tun, und vielleicht kommt sie mal zu Euch nach Berlin, es wäre schön. Heute vor 14 Tagen war der 75. Geburtstag. Es war ein schöner Tag. Der Morgen- und Abendchoral mit den vielen Stimmen und Instrumenten klingt noch in mir nach: „Lobe den Herren, den mächtigen König … in wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“ So ist es, und darauf wollen wir uns weiter getrost verlassen.

      Nun kommt ja der Frühling mit Macht. Ihr werdet viel im Garten arbeiten; bei Renate gehen hoffentlich die Hochzeitsvorbereitungen gut voran. Hier im Gefängnishof singt morgens und auch jetzt abends eine Singdrossel ganz wunderbar. Man wird für Geringes dankbar, auch das ist wohl ein Gewinn! Lebt wohl!

      Es denkt an Euch und alle Geschwister und Freunde in Dankbarkeit und Liebe immer

       Euer Dietrich

      Würdet Ihr bitte gelegentlich Hausschuhe, Schnürsenkel (schwarz, lang), Schuhcreme, Briefpapier und -umschläge, Tinte, Raucherkarte, Rasierseife sowie Nähzeug und einen Anzug zum Auswechseln hier für mich abgeben? Vielen Dank für alles!

       2. An Karl und Paula Bonhoeffer

      25. April 1943, Ostersonntag

       Liebe Eltern!

      Heute ist endlich der 10. Tag wieder da, an dem ich Euch immer schreiben darf, und wie gern würde ich Euch wissen lassen, dass ich auch hier ein frohes Ostern feiere. Es ist das Befreiende von Karfreitag und Ostern, dass die Gedanken weit über das persönliche Geschick hinausgerissen werden zum letzten Sinn alles Lebens, Leidens und Geschehens überhaupt und dass man eine große Hoffnung fasst. Seit gestern ist es wunderbar still im Haus geworden. „Frohe Ostern“ hörte man viele einander zurufen und neidlos gönnt man jedem, der hier schweren Dienst versieht, die Erfüllung dieses Wunsches. Im Stillen höre ich nun auch Eure Ostergrüße, wenn Ihr heute mit den Geschwistern zusammen seid und an mich denkt.

      Am Karfreitag war Marias Geburtstag. Wenn ich nicht wüsste, mit wie festem Herzen sie im vorigen Jahr den Tod ihres Vaters, ihres Bruders und zweier besonders geliebter Vettern getragen hat, dann wäre mir wirklich bange um sie. Nun wird Ostern sie trösten, ihre große Familie wird ihr sehr beistehen und ihre Arbeit im Roten Kreuz beansprucht sie ganz. Grüßt sie sehr, sagt ihr, dass ich mich sehr nach ihr sehne, dass sie aber nicht traurig, sondern tapfer sein soll wie bisher. Sie ist eben noch so sehr jung, da ist das schwer.

      Nun muss ich Euch aber erst einmal sehr danken für alles, was Ihr mir gebracht habt und für Papas und Ursels Grüße. Das könnt Ihr Euch nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn einem plötzlich gesagt wird: „Ihre Mutter, Ihre Schwester, Ihr Bruder waren eben da und haben etwas für Sie abgegeben.“ Einfach die Tatsache der Nähe, das handgreifliche Zeichen dafür, dass Ihr immer an mich und für mich denkt – was ich ja eigentlich sowieso weiß –, das ist etwas so Beglückendes, dass es durch den ganzen Tag hindurch trägt. Habt vielen, vielen Dank für alles!

      Es geht mir weiter gut, ich bin gesund, darf täglich 1/2 Stunde ins Freie, und nachdem ich nun auch wieder rauchen kann, vergesse ich manchmal sogar für kurze Zeit, wo ich eigentlich bin! Ich werde gut behandelt, lese viel, außer Zeitung und Roman vor allem die Bibel. Zum richtigen Arbeiten ist die Konzentration noch nicht da, aber ich habe mich in dieser Karwoche doch endlich mit einem, wie Ihr wisst, mich längst sehr beschäftigenden Stück der Passionsgeschichte, dem hohenpriesterlichen Gebet, gründlich befassen können und sogar ein paar Kapitel paulinischer Ethik für mich auslegen können; das war mir sehr wichtig. Also, ich muss wirklich immer noch sehr dankbar sein. Wie mag es Euch nur gehen? Freut Ihr Euch noch an den vielen herrlichen Geburtstagsblumen? Was machen Eure Reisepläne? Ich fürchte fast, Ihr werdet nun gar nicht in den Schwarzwald fahren, was doch so gut und nötig gewesen wäre! Und zu dem allen kommen ja nun noch Renates Hochzeitsvorbereitungen. Ich möchte dazu als meinen ausdrücklichen Wunsch sagen, dass Ursel den Termin um keinen Tag hinausschiebt, sondern Renate so bald, so fröhlich und so unbeschwert wie möglich heiraten lässt; alles andere wäre mir nur schmerzlich. Renate weiß ja, mit wie viel guten Wünschen


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