Du wartest jede Stunde mit mir. Dietrich Bonhoeffer
in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, sodass schließlich nach dem Abbruch – höchstens noch der Choral: ‚Vor Deinen Thron tret’ ich allhier‘ – intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden.“ Der Brief korrespondiert in seinem Gelegenheitscharakter und seiner Vorläufigkeit mit Bonhoeffers Leben insgesamt. Trotzdem ist das für ihn nicht länger ein Grund zur Trauer. Im Gegenteil: In dem Zitat nennt Bonhoeffer die Bedingung dafür, wann man sich über das Fragmentarische des eigenen Lebens sogar freuen kann: Wenn die unterschiedlichen Lebensthemen durch den Glauben an Gott, den großen Kontrapunkt, zusammenstimmen. Der Glaube an Jesus Christus, der selbst als Gescheiterter, als am Kreuz Hingerichteter, das ihm von Gott bestimmte Lebenswerk vollendet hat, vermag auch das fragmentarische menschliche Leben zum Ziel zu führen.
Inhalt
Wie bei einer Ellipse kreisen die Briefe inhaltlich um zwei Brennpunkte: um Menschliches und Theologisches. Familie, Verlobung und Freundschaft wurden für Bonhoeffer in der Nazizeit insgesamt, erst recht aber während der Haft, zu Oasen der Menschlichkeit. Schon im ersten Brief an die Eltern vom 14.4.1943 fällt die ungeheuer wache menschliche Zuwendung und Wärme Bonhoeffers auf. Dieser Ton prägt auch alle folgenden Briefe an die Eltern, die Verlobte und den Freund. Der inhaftierte Bonhoeffer ist voller Interesse und Mitgefühl am Ergehen nicht nur der Eltern, der Verlobten und des Freundes, sondern auch der Geschwister und anderer Angehörigen und Freunde. Zwischen den Zeilen spürt man seinen Kampf mit den Infragestellungen des Menschlichen durch das nationalsozialistische Terrorregime. Immer wieder geht Bonhoeffer darauf ein, was ihm hilft, trotz des unmenschlichen Terrors nicht am Leben zu verzagen: Es sind die „guten Mächte“ – neben geistlichen Dingen wie Paul-Gerhardt-Liedern, den Psalmen, den Losungen und der Bibel insgesamt auch gute weltliche Lektüre (vor allem Adalbert Stifter), mit Liebe gepackte Esspakete der Familie und der Verlobten, aber auch geistige Arbeit allgemein (vgl. den Brief vom 18.11.1943 an Eberhard Bethge und den Brief vom 19.12.1944 an Maria von Wedemeyer14). Zeitweise kann Bonhoeffer seine Gefängniszelle mit Erinnerungen an die Eltern, die Verlobte und den Freund so ausgestalten, dass sie für ihn den Charakter eines Zuhauses annimmt. Ohne einem „Kult des Menschlichen“15 verfallen zu wollen, stellt Bonhoeffer fest: „Schließlich sind eben die menschlichen Beziehungen doch einfach das Wichtigste im Leben […].“ Die theologische Begründung dafür findet er, gut lutherisch, in Gottes Gebot. Die beiden höchsten Gebote sind nach den Worten Jesu das Gebot der Gottes- und das der Nächstenliebe, woraus für ihn folgt: „Gott selbst lässt sich von uns im Menschlichen dienen.“
Hinter diesen Überlegungen zur Bedeutung des Menschlichen steht Bonhoeffers Entdeckung der „Polyfonie des Lebens“16. Diese Polyfonie spiegelt sich in seinem Verhalten im Gefängnisalltag. Er lernt, zu eigenen irdischen Wünschen zu stehen,17 genießt die Wärme, die von der Liebe seiner Verlobten und seiner Familie ausgeht,18 und freut sich an der Schönheit der irdischen Dinge.19 Er kann sich von dem Druck befreien, ein besonders religiöser Mensch sein zu müssen, und stattdessen ganz nüchtern als Mitmensch die Nöte der Mitgefangenen wahrnehmen und mittragen.20
Die Liebe zu Maria von Wedemeyer ist der „Katalysator“, durch den diese Erkenntnisse bei Bonhoeffer Gestalt gewinnen. In seiner Verlobten – und auch in seinem Freund Eberhard Bethge – hat er Menschen gefunden, die ihr Christsein ganzheitlicher leben als er. In einem Brief an Maria von Wedemeyer heißt es: „Erkennen, Wollen, Tun, Empfinden und Erleiden bricht bei Dir nicht auseinander, sondern ist ein großes Ganzes […], das ist es, was ich brauche, was ich in Dir gefunden habe, was ich liebe – das Ganze, Ungeteilte, wonach ich Sehnsucht und Verlangen habe.“21 Durch die Beziehung zu Maria wird Bonhoeffer sich seiner Existenz als theologischer „Kopffüßler“ bewusst. In einem Brief beschreibt er seine Sehnsucht, wieder am ganzen Leib die Sonne zu spüren: „Ich möchte mir von ihr meine animalische Existenz erwecken lassen, nicht jenes Animalische, das das Menschsein erniedrigt, sondern das es aus der Muffigkeit und Unechtheit einer nur geistigen Existenz befreit und den Menschen reiner und glücklicher macht.“22
Es geht Bonhoeffer nun nicht mehr darum, ein Heiliger zu werden, sondern wirklicher Mensch zu sein. Er will Christ sein mitten in der Diesseitigkeit der Welt. Am 21.7.1944 – unmittelbar nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler – schreibt er an seinen Freund und theologischen Gesprächspartner Eberhard Bethge: „Ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden […] –, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern die Leiden Gottes in der Welt ernst […], und so wird man ein Mensch, ein Christ.“23 Entsprechend soll die Ehe mit Maria von Wedemeyer „ein Ja zu Gottes Erde sein“.24 Dabei ist die von Bonhoeffer gemeinte Diesseitigkeit nicht zu verwechseln mit der „platten und banalen Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven“, sondern zu verstehen als eine „tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist“.25
Theologisch begründet Bonhoeffer seinen Weg zu einem ganzheitlichen Menschsein von der Menschwerdung Jesu Christi her: Weil Jesus Mensch war, darf auch der Christ schlicht Mensch sein. Auf diesem Hintergrund wird auch Bonhoeffers Liebe zum Alten Testament verständlich: Indem er das Alte Testament in den Vordergrund rückt, will er verhindern, dass das Diesseits im Glauben vorzeitig aufgehoben wird. So wie Jesus soll auch der Christ das irdische Leben ganz auskosten: „und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihm und ist er mit Christus gekreuzigt und auferstanden.“26
Menschliches und Theologisches gehören in Bonhoeffers Briefen untrennbar zusammen und sind wechselseitig aufeinander bezogen. Genau wie Bonhoeffer seine Hinwendung zum ganzheitlichen Menschsein und damit zum weltlichen Leben theologisch begründet, erwachsen seine neuen theologischen Erkenntnisse organisch aus der für ihn neuen und ungewohnten Situation im Gefängnis. Bonhoeffer geht aus von der Frage, „wer Christus heute für uns eigentlich ist.“27 Er möchte wissen, wie die christliche Botschaft den modernen Menschen heute noch in seiner Lebensmitte erreichen kann. Denn Gott ist nicht ein Gott für die existenziellen oder intellektuellen Grenzsituationen des Menschen, wo dieser mit seiner eigenen Kraft nicht mehr weiterweiß. Der christliche Gott gibt uns – so Bonhoeffer – vielmehr zu wissen, „dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertigwerden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt, und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist in Matthäus 8,17 ganz deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens!“28
Diese Sätze haben einer ganzen theologischen Bewegung, der sogenannten Gott-ist-tot-Theologie, in den 1960er-Jahren mit Bischof Robinson und Dorothee Sölle als ihren prominentesten Vertretern als Legitimation gedient. Es ist heute weithin anerkannt, dass sich diese Bewegung zu Unrecht auf Bonhoeffer berufen hat. Er will ja nicht etwa sagen, dass Gott tot sei und wir unser Leben darum nicht mehr an Gott ausrichten müssten. Vielmehr kritisiert er in diesen Aussagen einen traditionellen Gottesbegriff, der nicht wirklich Ernst gemacht hat mit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Gott ist kein anderer als der Vater Jesu Christi. Bonhoeffer ringt um eine Verchristlichung der herkömmlichen Rede von Gott.29 Leitgedanke ist für ihn dabei Johannes 1,14: „Das Wort ward Fleisch.“30
Die nicht-religiöse Interpretation christlicher Begriffe ist der Versuch, traditionelle christliche Begriffe radikal-christlich zu interpretieren. Bonhoeffer hat sie allerdings selbst nicht mehr durchführen können.31 Die