Dunkler Paladin. Cole Brannighan
Eitersäcken gleich krochen graue Regenwolken über den Himmel und zogen über den Berg Sackling, an dessen Fuß sich die Stadt Helinas mit ihren gedrungenen Häusern schmiegte.
Die Bauern mühten sich, ihre Tiere und Gerätschaften von den Feldern zu holen und sich vor dem nahenden Niederschlag hinter die Stadtmauern zu flüchten.
Finn saß locker im Sattel und passierte die Feldarbeiter, bis er die Mauern erreicht hatte.
Stadtgardisten in aschgrauen Mänteln und hohen Stehkragen hielten zu beiden Seiten des Tors Wache, schenkten Finn jedoch keine Beachtung.
Helinas hieß ihn ohne einen langsamen Übergang mit dem Gestank der Großstadt willkommen. Der Duft von Kuhfladen, offenen Kanälen und Ziegenkötteln schwängerte die Luft der Straßen, auf denen sich Menschen an Marktbuden mit kieselgrauen Baldachinen drängten.
Finn drängelte sich auf seinem Reittier durch die Menge und erreichte nach einer Weile den Tempel des heiligen Durhelian, der äußerlich mit seinen Zinnen, dicken Mauern und dem verstärkten Tor einer Festung glich.
Finn saß ab und übergab die Zügel einem Novizen, der ihn in Empfang nahm. Danach grüßte er seine beiden Brüder, die auf den Stufen vor dem Eingang Wache hielten, und trat ins Innere. Seine Schritte hallten auf den Marmorfliesen. Haushohe Kriegerplastiken aus nachtschwarzem Marmor säumten einen großen Zeremoniensaal. Sie blickten auf Finn herab, während sie sich mit Schilden gegen das Deckengewölbe stemmten.
Finn lief zur Stirnseite des Tempels, wo eine Feuerschale in den Boden eingelassen war, in der das Indigofeuer des Heiligen loderte. Es brauchte weder Holz noch Öl und warf keinen Schatten.
Er beugte das Knie und legte sich die rechte Faust auf die Brust. Er wusste nicht, ob dies die Stelle war, in der das heilige Buch Renarian eingelassen war, das in den Fundamenten eines jeden der vier durhelianischen Tempel in den Jorvenlanden ruhte. Dennoch versuchte er sich vorzustellen, dass er sich über der Heiligen Schrift befand und betete:
Heiliger Durhelian,
erleuchte unseren Weg,
eine unsere Stärke im Glauben,
eine unseren Mut in der Schlacht,
eine uns und wir folgen dir,
eine uns und wir dienen dir.
Im Geiste und auf dem Felde
sind wir dein Schild und deine Lahras.
Dein Wort ist uns Gesetz,
deine Gerechtigkeit unser Lohn.
Lass uns obsiegen, wenn Dunkelheit droht.
»Bruder Finn, es freut mein Herz, Euch wiederzusehen«, rief Großmeister Raukhar von der Arkade über dem Zeremoniensaal herunter. Er trug eine Robe mit einer Seidenschärpe, die zu beiden Seiten vom Hals hinunter hing. Das Goldamulett mit dem Flammenschwert baumelte an seiner Kette nach vorn, weil er sich über die Brüstung beugte. »Kommt ins Ordinariat und berichtet mir von Eurer Reise.«
Finn ging die Treppe hoch und folgte dem Großmeister vorbei an den Ruheräumen ins Ordinariat. Er grüßte zwei Brüder, die ihn passierten und schloss die Türe hinter sich.
Tageslicht belebte einen Rundbogen mit Buntglasfenstern, die in zwei Seiten aufgeteilt waren. Links strebten Flüsterlinge mit ätherischen Körpern aus den Tiefen hinauf in die Welt der Menschen und griffen mit ihren Krallen nach den Wurzeln der Bäume, um sich hochzuziehen. Rechts stand eine Lichtgestalt aus Indigo auf dem Gipfel eines Berges und scharte Krieger um sich, die sich im Kreis um ihn versammelten. Bunte Lichtflecken der Szene fielen auf einen Schreibtisch voll mit Schreibfedern, Tintenfässchen und Papierstapeln. Außer der Stirnseite mit den Fenstern und dem Kamin war jeder Zoll Wand mit Bücherregalen verkleidet, deren Bretter sich unter der Last von Folianten bogen.
Großmeister Raukhar strich sich das schüttere Haar nach hinten und setzte sich. Das Leder des Sessels knarzte unter dem Mann, dessen Bauch seine Amtsrobe wölbte. »Ihr seid schneller zurück, als ich erwartet hatte. Ich nehme an, Ihr seid mit einer Himmelsbarke von Wranis zurückgekehrt? Gibt es Neuigkeiten vom Tempel Bahlinors, ist der Großmeister mit den Umbauarbeiten fertig?«
»Nein, Großmeister. Wir wurden auf dem Weg von Krummlingen überfallen«, erwiderte Finn. Er kramte aus der Innentasche seines Umhangs die Siegelrolle von Exarch Gamrion hervor.
Raukhar nahm sie entgegen, brach das Siegel und las. Seine Stirn legte sich in Falten. »Er schreibt vom Attentat auf sein Leben und von den Kultisten, die sich ausbreiten. Außerdem lobt er Eure Stärke – Euer Kampfesmut werde dem Heiligen gerecht.«
Finn nickte verhalten. Wenn er denn so gelobt wurde, wieso durfte er nicht mit nach Wranis, um sich dort einen Namen gegen die Kultisten zu erkämpfen?
Großmeister Raukhar lachte auf. Das Echo wurde von den Büchern aufgesogen, als säßen sie in einem Teppichladen. »Ich kann es von Eurem Gesicht ablesen. Ihr grämt Euch, nicht kämpfen zu dürfen. Doch es ist der Glaube, der Euch Kraft verleiht. Und Ihr solltet auch Glauben in Eure Brüder setzen. Sie geben Euch die Aufgaben, die Ihr braucht, um Euch zu entwickeln. Habt Geduld.«
»Botendienste, Segnungen, das Einsammeln von Spenden, Eskorten. Wenn ich keine Gelegenheit zum Kampf erhalte, kann ich wohl kaum Ruhm ernten? Wieso kann ich nicht mit meinen Brüdern auf die Jagd nach Dämonen gehen?«
»Dämonen sind nicht die einzigen, gegen die es zu kämpfen gilt«, mahnte der Großmeister, zog die Brauen hoch und hob den Zeigefinger. »Übt Euch in innerer Betrachtung.« Er stand auf und legte Finn die Hand auf die Schulter. »Den Novizen habt Ihr beim Initiationsritual hinter Euch gelassen. Beim Durchschreiten der Indigoflammen hat Euch das Feuer nicht verzehrt, daher habt Ihr Euren Mut und Eure Rechtschaffenheit bereits unter Beweis gestellt. Nun werden Eure Pflichten Euch auf dem Wetzstein des Glaubens schleifen. Nehmt heute Abend eine Himmelsbarke zum Gipfel des Sacklings, in ein paar Stunden seid Ihr oben. Wohnt dem Ritual bei und entzündet mit unseren Brüdern das Feuer – das erste Licht des neuen Jahres.«
»Möchtet Ihr dieses Jahr nicht selbst zum Ritual?«
»Nein, übernehmt das dieses Mal für mich.«
Finn war verwundert, dass sich Raukhar dieses Ereignis entgehen ließ.
»In meiner Doppelrolle als Großmeister unseres Tempels in Helinas und dem Bergtempel auf dem Sackling kann ich nicht allen Aufgaben gerecht werden, die man mir abverlangt. Deshalb muss ich Prioritäten setzen.«
Finn hatte mal wieder das Gefühl, dass bei ihm alle unangenehmen Aufgaben, die keiner erledigen wollte, abgeladen wurden. Aber er hatte keine andere Wahl, er musste Geduld zeigen. »Wie Ihr wünscht«, antwortete Finn zerknirscht und verließ den Raum.
Die Himmelsbarke schaukelte sachte hin und her, während sich die Oberfläche von Finns Fischsuppe nach links und rechts neigte. Er saß im Speiseraum am Tisch und hatte neben der Schale einen Zwergenberg aus Gräten angehäuft, die der Koch nicht aus dem Fleisch gezogen hatte.
Wieso kann es auf Himmelsbarken nicht Vögel zu essen geben, wenn es auf Ozeanschiffen Fisch zum Essen gibt, fragte er sich, zog sich eine weitere Gräte aus dem Mund und platzierte sie auf dem Haufen. Was beschwerte er sich eigentlich? Für Überfahrten auf Schiffen und Himmelsbarken mussten Geistliche und ihre Begleiter nicht zahlen, und das dank dem Einsatz von Exarch Gamrion, der die Dienste von Priestern gegenüber der Krone als Notwendigkeit durchgesetzt hatte. Daher sollte er sich freuen und die kleinen Unannehmlichkeiten hinnehmen.
Der Lichtkegel der Öllampe, die an einem Deckenbalken hing, glänzte im Blut der Fische, denen der Koch an seinem Hackbrett die Köpfe abschlug. Etwas an der Art und Weise, wie er es tat, verdarb Finn den Appetit. Er schob die Suppe beiseite und schaute zum Spielmann, der ihm gegenüber am Tisch saß.
Saite für Saite zupfte er an seiner Laute mit dem abgeknickten Kopf und drehte an Rädchen, bis ihm das Ergebnis gefiel. Beim letzten Ton verzog er das Gesicht, dann lächelte er und spielte eine Melodie.