TEXT + KRITIK 231 - Thomas Meinecke. Charlotte Jaekel
TEXT+KRITIK.
Zeitschrift für Literatur
Begründet von Heinz Ludwig Arnold
Redaktion:
Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Peer Trilcke
Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96
Print ISBN 978-3-96707-540-3
E-ISBN 978-3-96707-542-7
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © Isolde Ohlbaum (2015)
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Charis Goer / Thomas Meinecke
Feministischer Materialismus, Adornos Widersprüche, mediokre Körperteile, digitale Glitches, kollaborative Briefromane: »Da gibt es noch so viel zu entdecken«. Ein Gespräch
Beat Mazenauer »Weg mit dem Gehüstel der Geschichtenerzähler«. Thomas Meinecke – Poetik und Werk
Eckhard Schumacher Re-make / Re-model revisited. Über Thomas Meinecke, F. S.K. und die »Kunst des Zitats«
Torsten Hahn Schwarze Flächen und weiße Leerräume. Selbst- und Fremdreferenz in der Oberflächenästhetik. (Eine Buchseite von Thomas Meinecke)
Thomas Ernst Pop, Plagiat und Persönlichkeitsrechte. Thomas Meineckes Romanpoetik und das Recht
Charlotte Coch Poetik der Regelkreise oder Thomas Meineckes erzählerische Ethik
Daniela Gretz »Hubert Fichte (…), der hamburgische Pionier der Popliteratur im langen schwingenden Pelzmantel«. Thomas Meineckes Erfindung (s)einer Tradition
Barbara Vinken Queering the opera: Mozarts / Da Pontes Cherubino d’Amore. Begehrte Travestie, travestiertes Begehren
Charlotte Jaekel Vertikal/horizontal. Thomas Meineckes Prosa im Spiegel des 19. Jahrhunderts
Bettina Bildhauer Meinecke als Mystikerin: Jenseits der Realität/Diskurs-Dichotomie
Charis Goer Auswahlbibliografie Thomas Meinecke (1978–2021)
Biografische Notiz
Notizen
Charis Goer / Thomas Meinecke
Charis Goer: Erzähl doch erst einmal, was dich im Moment so interessiert.
Thomas Meinecke: Neu dazugekommen, könnte man sagen, ist in der letzten Zeit einmal der ganze Komplex Materialismus, also die Wiederkehr – für mich ist es eine Art Wiederkehr, für andere ein Nie-Weggewesensein – von materialistischen Zusammenhängen. Und ich habe immer noch nicht begriffen, ob das ganz verschiedene Interessen sind, die damit verbunden sind: nämlich einmal im klassisch marxistischen Sinne Materialismus, im anderen Sinne – und vielleicht ist das eben gar nicht ein so anderer Sinn – aber auch der, der eher ins Latour-hafte spielt: »Das Parlament der Dinge«. Wo ich aber dann etwas enttäuscht war, nachdem ich dort gelesen hatte, dass es da Dinge im Sinne von Angelegenheiten sind, also gar nicht mal unbedingt der Gegenstand im haptischen, physischen Sinne. Ich weiß nicht genau, worauf damit abgezielt wird, weil es für mich im Moment noch nicht ganz trennscharf ist von den Anstrengungen der vielleicht vor zehn Jahren oder so auftretenden spekulativen Realisten, die sagten: »Wieso, wir haben doch etwas vor der Sprache und das sind die Dinge.« Und ich finde eigentlich, ich möchte mein Leben ganz gerne damit fristen, durchgehend nicht etwas vor der Sprache anzunehmen – oder annehmen zu müssen. Wo komme ich damit hin? Also, wenn man jetzt sagt: »Wir hatten doch – oder wir haben doch – archäologische Funde, die irgendwelche versteinerten Flugechsen oder sowas sind und die uns klarmachen, da gab es noch keine Menschen, also gibt es etwas vor der Sprache.« Da will ich nicht hindenken, weil ich das Gefühl habe, das nimmt mir etwas anderes als Errungenschaft wieder weg, nämlich die sich doch eher auf Sprache verlassende Dimension der politischen Dekonstruktion von Dingen, weil es so in Richtung Essentialismen deuten würde. Ich habe einfach Angst davor, weil ich denke, es könnte auch der politische Gegner sein, der damit kommt. Der mir das wegnehmen will, wo man schon hingedacht hat als Zivilisationsprozess, der eine gewisse Dinglichkeit auch hinter sich lassen kann, zum Beispiel Körper. Damit sind wir ja auch beim Genderdiskurs: Die Vorstellung, dass der Körper eben etwas Gegebenes ist – und das wollten uns auch die Hirnforscher verkaufen.
Wobei die ja inzwischen auch schon wieder vorsichtiger geworden sind. Vor einigen Jahren waren extrem biologistische Argumentationen in der Tat sehr stark, aber das hat sich, so mein Eindruck, wieder deutlich relativiert.
Wohin eigentlich relativiert? Ich habe da nicht so den Überblick … Ich kriege auch mit, dass das so gesagt wird, aber ich weiß nicht – was konnten die zurücknehmen?
Ich habe den Eindruck, dass da doch inzwischen mehr Skepsis herrscht und nach einigen vielleicht sehr steilen Thesen zunehmend differenzierter und viel vorsichtiger kommuniziert wird. Vielleicht ist es auch eine Frage, wie diese Ansätze öffentlich rezipiert worden sind, und dass die Neurowissenschaftler selbst das Gefühl hatten, dass ihre Erkenntnisse doch zu stark verkürzt worden sind, sodass von Forschern wie Wolf Singer und Gerhard Roth etwa in dem »Manifest« 2004 schon auch deutlich betont wird, wie wenig man letztendlich darüber weiß, was physisch messbare und visuell zeigbare Vorgänge letztlich bedeuten. Dass man, selbst wenn man bildgebende Verfahren hat, damit längst nicht alle geistigen Vorgänge erklären kann und es wohl auch auf absehbare Zeit nicht können wird.
Interessanterweise glaube ich sogar, mit dem Fortschreiten von deren Erkenntnisprozessen wird immer klarer, dass das ein asymptotischer Prozess ist, der niemals zu dem Punkt kommen wird, wirklich in Deckungsgleichheit zu geraten und alles anhand von Gehirnströmen erklären zu können. Diese Restmenge wird sozusagen unter der Lupe sehr groß und deswegen kann man sich vorstellen, dass es ganz natürlich ist, dass sie, je weiter sie kommen, desto mehr relativieren müssen, was die Urannahme war. – Jedenfalls, als ich letztes Jahr Writer in Residence in St. Andrews war, wurde mir von der Mediävistin Bettina Bildhauer ein Buch zum materialistischen Feminismus empfohlen, ein Reader, den ich jetzt immer noch nicht gelesen habe, der mich aber täglich auf meinem Schreibtisch anschaut. Wo ich mich frage, inwiefern man da auch mit den Körpern, ohne essentialistisch zu werden, umgeht. In meinem nächsten Buch habe ich das ein bisschen im Griff über eine Konstruktion, die auch durchaus mediävistisch ›gefuelled‹ ist, nämlich über die Vorstellung von Reliquien, die sozusagen über sich selbst hinausweisen, die quasi nicht ›das Ding an sich‹ sind.