TEXT + KRITIK 231 - Thomas Meinecke. Charlotte Jaekel

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Marcel Beyer. Bis drei Uhr morgens, fährt der Text fort, habe der Autor noch für den im Entstehen begriffenen Roman »Selbst« (2016) eine Quelle abgetippt, um mit ein paar Bemerkungen überzuleiten zu einer Lesung mit Frank Witzel, für die er auf seiner »Facebook Wall« noch ein Velvet-Underground-Cover gepostet hat. Er würde, während Witzel vorliest, Schallplatten aus dem Jahr 1969 vorspielen. Damit ist Meinecke bei der Musik angelangt. Neben der Arbeit am Text für »Akzente« suchte er Platten für ein DJ Set zusammen – »Besonders schön: Levon Vincents neue 12-inch aus pinkem durchsichtigem Vinyl« –, danach würde er eine »Zündfunk«-Radiosendung vorbereiten und sich dann zu einem Gesprächsabend an der Ludwig-Maximilians-Universität aufmachen.1

      In dem Sinn verbindet sich Pop mit analytischer Schärfe. Meinecke driftet nicht auf den Oberflächen umher, wie es dem landläufigen Pop zum Vorwurf gemacht wird, sondern wirft seine Fangnetze in unergründete Tiefen, um Verschollenes, Verdrängtes, Verachtetes zu heben mit dem Ziel, das »Queerpotenzial« unserer hybriden Kultur zu erkennen und herauszuarbeiten. Pop meint hier, resolut die Ordnungsstrukturen zu hinterfragen und sie in einem literarischen Sound so subtil zu zitieren wie virtuos zu remixen. Das Wort »Gedanken-Pop«, das Jörg Drews in einer Rezension zu »Tomboy« verwendet, ritzt auch nur die Oberfläche. Thomas Meinecke zielt tiefer, analysiert die kulturelle Dichotomie von wertschätzender Traditionsorientierung und oberflächlicher Zeitgenossenschaft wie kaum ein anderer Autor und entlarvt sie als falsch. Insofern weist Pop bei ihm weit über die musikalische und literarische Genrefragen hinaus.

      Schon 1986 war Meineckes Erstling »Mit der Kirche ums Dorf« erschienen, eine Auswahl von Kurzprosa, die er von 1978 bis 1986 für »Mode & Verzweiflung« und ab 1982 für »Die Zeit« verfasst hatte. Darin – und in der 12 Jahre später erschienenen Anthologie »Mode & Verzweiflung« – schöpft er kräftig aus dem narrativen Volksvermögen, indem er Geschichten aus den Medien variiert und die Perspektive des trägen TV-Publikums zum Standard erhebt. Sich selbst hält der Erzähler diskret hinter einem ungreifbaren »Wir« versteckt. Meineckes sarkastische Spitzen zielen direkt auf den Typus des »68er-Gutmenschen«, der seine ehrlichen, persönlichen Animositäten oft nur notdürftig unter dem Mäntelchen der political correctness verbirgt. Dabei schreckt Meinecke in perfider Unbefangenheit auch nicht vor taktlosen Bemerkungen zurück, die durch deftige Pointen und absurd wirkende Fotoillustrationen noch akzentuiert werden. Die zugespitzten Formulierungen, mit denen er die Populär- und Unterhaltungskultur aufs Korn nimmt, täuschen nie über den unterschwelligen kulturtheoretischen Ernst hinweg. Auch wenn Meinecke sichtlich nicht der 1968er-Euphorie


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