TEXT + KRITIK 231 - Thomas Meinecke. Charlotte Jaekel
bilden gemeinsam eine Konstellation, woraus sozialversicherungslos »unsere Familie« entsteht. In den nächsten Jahren weicht Thomas Meinecke seine auktoriale Distanz ein wenig auf, um fortan selbst in seine Literatur einzutreten: als Doppelgänger, als Text, als Selfie.
2011 erschien der Roman »Lookalikes«, in dem eine Lacan-Gruppe einen Diskurs über Identität und Differenz führt und sich parallel dazu ein gewisser Thomas Meinecke – »Thomas Meinecke ist jetzt eine Romanfigur«32 – in Brasilien auf die Spuren von Hubert Fichte begibt, der Brasilien und speziell Salvador de Bahia auf der Suche nach der Chôro oder Forró-Musik oder dem Candomblé-Ritual mehrfach bereiste. Meinecke entwirft ein gewieftes Spiel der Verdoppelung mit seinem Idol, indem sich auch Fichtes Gefährtin, die Fotografin Leonore Mau, in Meineckes Begleiterin Michaela Mélian spiegelt. Im 1993 posthum erschienenen Roman »Explosion« nennt Fichte sein Alter Ego Jäcki, um so eine différance zur eigenen Person zu signalisieren. Thomas Meinecke alias »der Popliterat Meinecke«33 nimmt dies nicht allein zum Anlass, um die Fichte’sche Konstellation zu spiegeln. Mit dem Autor als Romanfigur (»Gewöhnungsbedürftiger, irritierender Gedanke«34) erhalten zahlreiche Personen aus dessen realem Leben einen Auftritt im Roman, sodass sich die Grenzen zwischen Fiktion und Faktum vollends verwischen. Die Nähe zur eigenen Person mag auch dazu beitragen, dass der fiktive Doppelgänger Meineckes etwas plastischer erzählt erscheint als seine rezipierten Figuren.
»Lookalikes« erweitert abermals die Palette an Referenzen, Themen und Codes, er nimmt das Mystische des Vorgängerromans im synkretistischen Candomblé-Kult auf, erinnert an Schlegels »Lucinde«-Roman und begreift mit Josephine Baker oder Lady Gaga abermals die pop-musikalische Sphäre mit ein. Die Kritik urteilte wie immer geteilt. Unter den Kritikern aber fiel die Stimme Hubert Winkels’ auf, eines alten Sympathisanten, dem hier mit Blick auf Meineckes »grandiose Anfänge« die Lust abhanden zu kommen schien. »Auf Repeat gestellte Achtziger-Jahre-Modediskurse« zieht er eine ernüchterte Bilanz.35
Der Vorwurf erscheint gegenstandslos angesichts dessen, dass Thomas Meinecke mit dem nächsten Roman »Selbst« ganz nah bei den gegenwärtigen Identitätsdebatten ankommen wird. Zuvor aber veröffentlichte er seine Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem Titel »Ich als Text« (2012). Meinecke hat eine spezielle Form dafür gefunden. Sie präsentieren sich als umfangreiche Collage von Interviews, literaturwissenschaftlichen Arbeiten und Kritiken zu seinem Werk, welche er ex cathedra mit Musikbegleitung vortrug. Im Titel nimmt er nicht nur Bezug auf den erwähnten Songtext, sondern auch auf einen gleichnamigen Aufsatz von 2000, in dem es heißt: »Ich will weiterhin, auf absehbare Zeit, womöglich für immer, nicht über mich schreiben, sondern von mir weg.«36 Die Form der Anthologie erweist sich als kongeniale Form des »Self-Objectifiying« (wie sie Meinecke im Roman »Selbst« thematisiert), indem sie den Autor zum Medium stempelt, durch den die Diskurse über sich selbst und sein Werk hindurchlaufen. Dabei interessiert ihn, wie er in »Feldforschung« mit Verweis auf den Fotografen Brassaï schrieb, »nicht das Authentische, sondern die Inszenierung der Authentizität«, also das eigene Werk im Spiegel seiner medialen Resonanz. Der Autor bleibt dabei »als Restmenge außerhalb meines Textes«.37
2016 erschien dann der siebte Roman mit dem programmatischen Titel »Selbst«, in dem sich der Autor selbst auftreten lässt. Das Muster wiederholt sich und wird zugleich subtil variiert. Abermals steht eine WG im Zentrum des Diskursgeschehens. Eva, Genoveva, Venus und ihre Liebhaber Henri und Sirius lesen und diskutieren sich durch den weit gefächerten Fundus der Debatten um Literatur, Philosophie, Kulturtheorie und Gender Studies bis zurück zu Texten von Bettina von Arnim und der Entdeckung einer Kolonie von deutschen Auswanderern in Texas aus dem Umkreis der Vormärz-Revolutionäre, die zurückverweist auf den ersten Roman »The Church of John F. Kennedy«. Zu den WG-Partner*innen gesellt sich nun auch Thomas »aus dem Voralpenland«38 alias Thomas Meinecke.
Selfies und Selbstbilder sind in Mode und scheinen den Zeitgeist exakt wiederzugeben. Thomas Meinecke gräbt jedoch unter diese Oberfläche, indem er die gesellschaftliche Konstruktion von Selbstbildern auf Funktion und Effekt hin befragt und sie mit eigenen Rollenerwartungen konfrontiert. Wenn auf der Buchrückseite der »lange erwartete Liebesroman« angekündigt wird, so ist das eine Diskursfalle. Es geht hier zwar um Sex und Porno, doch dieser »Liebesroman« des »feministischen Romanciers« Meinecke funktioniert anders. Der Diskurs ist die erogene Zone, die diskursive Distinktion ist selbst Teil einer zärtlichen Erfüllung. Schreiben sei weder Zeigen noch Aufzeigen, bemerkt eine der Protagonist*innen, es ist, entgegen »phallologischer Grammatik«,39 vielmehr eine Geste, um an den SINN ZU RÜHREN«40 – an das Eigene, an das Selbst. »Kurzum: ICH IST EINE BERÜHRUNG.«41
Vielleicht ist es diesem Zeitgeist und den ihn imprägnierenden sozialen Medien zu verdanken, dass sich seine Prosa hier schwebender und leichter liest. Im Unterschied zur festgefügten Textur früherer Romane präsentiert sich »Selbst« lichter und offener, mit oft kurzen Absätzen von wenigen Zeilen, die nur lose miteinander verknüpft sind. Inhaltlich gewinnen knapp hingesetzte Referenzen sowie ausführliche Zitate in Deutsch oder Englisch an Gewicht. »Nur ein stilistisch als auch argumentativ OFFENER TEXT eignet sich dazu, von den LeserInnen in Form eigener Texte fortgesetzt zu werden«42 – wobei zahlreiche Rückgriffe auf die eigenen früheren Romane mit impliziert sind.
Thomas Meinecke bleibt sich treu und funktioniert weiterhin »wie ein Chronist, wie ein Abtastsystem, wie ein Aufnahmeapparat«.43 Er bildet ab, ohne normativ zu werten. Anything is worth it. So verblüfft es immer wieder neu, mit welcher Souplesse und Hintergründigkeit er seit den 1980er Jahren den Zeitgeist in seinen Büchern abbildet und diskursiv vertieft – und das nicht selten um Jahre vor ihrer breiten gesellschaftlichen Aktualität. Mit seinem Sensorium für solche Diskurse ist das literarische Schaffen von Thomas Meinecke auch ein feiner Seismograf für den gesellschaftlichen Wandel.
1 Thomas Meinecke: »Donnerstag, der 10.12.2015«, in: »Akzente« 1 (2016), S. 84 f. — 2 https://www.youtube.com/watch?v=4dmCaEpCZp4 (1.3.2021). — 3 Leslie A. Fiedler: »Cross the Border. Close the Gap«, in: Uwe Wittstock (Hg.): »Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur«, Leipzig 1994, S. 14–39, hier S. 31. — 4 Ebd., S. 17. — 5 »Alles Mist. Thomas Meinecke über den Schwachsinn einer eigenständigen deutschen Popkultur«, in: »Spiegel spezial: Pop & Politik« 2 (1994), S. 83. — 6 Ebd. — 7 https://www.logbuch-suhrkamp.de/thomas-meinecke/clip-schule-ohne-worte-zweiundsiebzig (1.3.2021). — 8 »›Pop ist ein totalitäres System‹. Interview mit Thomas Meinecke von Freiwillige Selbstkontrolle«, in: »Neue Zürcher Zeitung«, 22.2.2008. —