Schwarze Jahreszeiten. Michal Glowinski

Schwarze Jahreszeiten - Michal Glowinski


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Michał Głowiński – „Schwarze Jahreszeiten” revisited

       Anmerkungen

       Abbildungsnachweis

      Vorwort von Michał Głowiński

      Als ich begann, diese Berichte niederzuschreiben, ahnte ich nicht, dass daraus ein Buch werden würde. Jeder von ihnen ist die Aufzeichnung einer Erfahrung, entstanden aus Blitzlichtern einer Erinnerung, die nicht die gesamten Vorkommnisse umfasst und nicht mein ganzes Leben in jenen Jahren und meine Überlebensgeschichte umspannt. Die Erzählungen haben unterschiedlichen Charakter; es lag mir nicht daran, sie zu vereinheitlichen. Ich war nicht in der Lage, zusammenhängend Bericht zu erstatten – zu groß waren die Erinnerungslücken – und ich hielt es für unangemessen, für nicht zielführend, diese Lücken mit Vermutungen, Erfindungen oder auch mit Informationen zu füllen, die ich aus in unterschiedlicher Form zugänglichen Quellen hätte schöpfen können. Erinnerungsblitze haben ihr eigenes Recht; sie befreien einen von der Sorge um die Folgerichtigkeit, sie begründen den fragmentarischen Charakter, ja sie setzen ihn geradezu voraus. Und sie motivieren Heterogenität. Ich schreibe darüber, woran ich mich erinnern kann, und wenn ich mir über etwas unsicher bin, erwähne ich das ausdrücklich. Der Leser sollte sich nicht wundern, wenn er hier oder da der Formel „ich weiß nicht” begegnet. Diese Erzählungen berichten lediglich über das, was ich erfahren und erinnert habe. Indem ich mich darauf beschränke, was ich am eigenen Leib erfahren habe, indem ich ausschließlich über mein Schicksal erzähle, und manchmal über jene, die auf dieses Schicksal einwirkten, möchte ich meiner Überzeugung Ausdruck verleihen, nichts zu wiederholen, was schon gesagt worden ist, was bekannt oder gar allgemein verfügbar ist, auch wenn ich hoffe, dass ich den Berichten damit nicht ihren allgemeineren Sinn nehme.

      Bruchstücke aus dem Ghetto

      Ich erinnere mich daran, wie ich es zum ersten Mal hörte. Gleich zu Beginn des Kriegs, unmittelbar nach der Niederlage. Es kam mir zu Ohren, als man beratschlagte: Werden sie uns im Ghetto einsperren oder nicht? Ich wusste nicht, was dieses Wort bedeutet, war mir jedoch darüber im Klaren, dass es mit einem Umzug zusammenhängt. Ich erkannte, dass die Erwachsenen mit Schrecken davon sprachen, doch bildete ich mir ein, dass es ein interessantes Abenteuer werden würde. Und schließlich stellte ich mir vor, dass dieses geheimnisvolle und unverständliche Ghetto ein riesiger, vielstöckiger Wagen sei, der durch die Straßen der Stadt fuhr, gezogen von einem Dutzend Pferden. In einem solchen Wagen würden sie uns unterbringen, wir würden dort einziehen – das wäre sicherlich aufregend interessant und unterhaltsam. Ich stellte mir vor, dass es dort viele verschiedene Treppen geben würde, sodass man bequem von einem Stockwerk ins andere laufen kann, auch an Fenstern würde es nicht fehlen, nichts würde also im Wege stehen, um die unbekannte Welt zu betrachten. Dieses fantastische Fuhrwerk stellte ich mir wie einen Leichenwagen vor, eine schwarze Todeskutsche, wie man sie in unserer Stadt sah. Rasch sollte ich aber die Gelegenheit haben, mich von diesen kindlichen Phantasmagorien zu trennen – wir zogen tatsächlich um, doch wurde das nicht zu einem faszinierenden Abenteuer. Die präzise Bedeutung des Wortes sollten mich in der unmittelbaren Zukunft die direkten Erfahrungen lehren. Schon bald hegte ich keinen Zweifel mehr an seinem Sinn, obwohl es noch vor Kurzem so geheimnisvoll, exotisch, fesselnd geklungen hatte.

      Diesen von Mauern umgebenen Raum verstehe ich noch immer nicht, ich kann ihn nicht begreifen, nicht beherrschen, ich vermag nicht, die Prinzipien zu erkennen, die ihn organisierten, für mich stellt er immer noch ein Chaos dar, das sich nicht ergründen lässt. Und das geschieht nicht nur, wenn ich mich an ihn erinnere, wenn ich versuche, mich an ihn so zu erinnern, wie ich ihn damals wahrnahm, als ich darin eingeschlossen war. Es ist auch so, wenn ich auf die Karte des jüdischen Wohnbezirks blicke, der so schnell zu einem Gebiet des kollektiven Todes werden sollte. Für mich ist er ein Gewirr von Straßen geblieben, die auf eine Weise miteinander verbunden waren, die ich nicht fassen kann. Ich kann in seinem Inneren nicht diejenigen Orte ausmachen, an denen wir wohnten, nicht erklären, was in meinem damaligen Empfinden fern war und was nahe lag, obwohl ich heute weiß, dass diese räumlichen Vorstellungen keine objektive Dimension besaßen. Denn hinter den Mauern entwickelten sich – wie in jedem Gefängnis, in jedem Lager oder, allgemeiner, an allen Orten, die als Strafkolonie bezeichnet werden können – diese Beziehungen auf eine ganz eigene Weise. Das Straßengewirr ist in meiner Erinnerung keinen Augenblick leer. Natürlich hielt ich mich hier nicht auf, wenn Polizeistunde herrschte und wenn naturgemäß alles menschenleer war. Ich habe diese Wege am Tag gesehen und war einer in der Menge, einer dichten Menge, durch die man kaum hindurchkam.

      Das Ghetto ist in meiner Erinnerung ein formloser Raum ohne ordnende Idee, ein Raum, den man mit Mauern umschlossen und ihm damit den Sinn genommen hatte, so wie man den Menschen den Sinn nahm, die hineingepfercht wurden. Ich kann mich jedoch an seine Farbe erinnern, eine eigentümliche und einzigartige, eine Farbe, durch die sich vielleicht jedes kollektive Unglück auszeichnet. Eine grau-bräunlich-schwarze Farbe, einzig in ihrer Art, bar jedes lebendigeren Farbtons, jedes bereichernden Elements. Vor Augen ist mir die Monochromatik des Ghettos geblieben, die vielleicht am besten durch das Wort „ausgeblichen” beschrieben wird. Denn eigentlich alles war ausgeblichen, unabhängig davon, welche Farbe es ursprünglich besaß, und unabhängig vom Wetter. Diese Ausgeblichenheit konnte selbst durch die intensivsten Sonnenstrahlen nicht belebt oder zumindest leicht gefärbt werden. Aber hat überhaupt jemals die Sonne über dem Ghetto geschienen? Kann sie denn dort scheinen, wo es keinen Zentimeter Grün gibt?

      Die Farbe des Ghettos ist in meiner Erinnerung die Farbe des Papiers, mit dem man die auf der Straße liegenden Leichen bedeckte, ehe sie fortgebracht wurden. Sie gehörten fest zur Stadtlandschaft, denn die Straße war nicht nur ein Ort plötzlicher und unerwarteter Tode, sie war auch ein Ort langsamen Verendens – vor Hunger, wegen Krankheit, aus allen möglichen weiteren Gründen. Die Zeit des großen Sterbens endete im Ghetto nie. Die mit einem Bogen Papier bedeckten Leichen beeindruckten mich immer sehr. Es war dieses Papier, das für mich zum Inbegriff des Todes wurde, zu einem seiner Symbole. Ich vermag die Farbe nicht zu beschreiben, durch die es sich auszeichnete, ich habe nie mehr so ein Papier gesehen, doch glaube ich, dass die Bezeichnung „ausgeblichen” den Dingen am nächsten kommt, ihnen am ehesten entspricht. Diese farblose Farbe – weder weiß, noch aschgrau, noch grau – bezeichnet die Farbgebung des Ghettos, gibt ihr den Ton.

      Und diese Ausgeblichenheit hat sich meinem Verstand dauerhaft eingeprägt. Deshalb wunderte ich mich, als ich sie plötzlich wiedersah, real und gegenständlich geworden. Ich sah sie im Kino, in Andrzej Wajdas Schwarz-Weiß-Film über Janusz Korczak. Doch war das kein gewöhnliches Schwarz-Weiß, und das nicht nur, weil der Regisseur in einer Zeit darauf zurückgriff, in der das Kino von Farbe dominiert wurde. Es war nicht gewöhnlich, weil es die Farbe des Ghettos wiedergibt, dieses grenzenlose Grau ohne Eigenschaften. Als ich den Film sah, glaubte ich meinen Augen kaum, dass ich diese ausgeblichene Farbe sehe, die eigentlich die Negation von Farbe ist, und zwar genau in der Form, in der sie sich für Jahrzehnte in meiner Erinnerung festgesetzt hatte. Allein schon wegen dieser Wiedergabe der Ghetto-Farbe bin ich Andrzej Wajda dankbar für diesen ungewöhnlichen und wichtigen Film, gegen den einige Fanatiker schwer begreifliche Vorwürfe erhoben haben.

      Ich überlege, was mir von den Ghettostraßen in Erinnerung geblieben ist – außer einem ganz allgemeinen Bild, in dem sie einem labyrinthischen Netz gleichkommen, durch das kein einsamer Wanderer irrt, sondern eine erniedrigte, systematisch aller Güter beraubte Menschenmenge, die sich noch nicht ganz darüber im Klaren ist, dass man ihr das höchste Gut nehmen wird: das Leben. Es ist wenig geblieben, einige Bruchstücke, Einzelheiten,


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