Schwarze Jahreszeiten. Michal Glowinski

Schwarze Jahreszeiten - Michal Glowinski


Скачать книгу
vermochte. Ich wusste bereits gut, worum es hier ging, was wir vermeiden wollten, indem wir uns an einem Ort versteckten, der sich nicht zum Leben eignet. Jeder von außen kommende Ton rief Entsetzen hervor. Und auch ich war, verständlicherweise, von Angst erfüllt. Ich schmiegte mich an meine Eltern, aber in dieser Lage waren selbst sie keine Sicherheitsgarantie, ich war mir darüber im Klaren, dass sie genauso in Gefahr waren wie ich und alle anderen. Es war dunkel, es herrschte absolutes Schweigen, denn keinerlei Lebenszeichen durfte aus diesen Mauern herausdringen.

      An diese Episode erinnere ich mich am besten: Auf einmal wurde die Stille radikal gestört. Eine der sich versteckenden Frauen hielt einen Säugling auf dem Arm, der wohl gerade einmal wenige Monate alt war (vielleicht war es die Frau des Hauswarts?). Er begann krampfhaft zu weinen und ließ sich nicht beruhigen. Die Mutter wiegte ihn, hielt ihm den Mund zu, schließlich gab man ihm ein Beruhigungsmittel. Man flüsterte sich zu, dass wir durch dieses Kind entdeckt und umkommen werden. Einige Stimmen verlangten, es zu ersticken, ansonsten würden es und mit ihm wir alle sterben, die wir uns in dem Keller verbargen. Eine Diskussion entstand, doch die junge Frau willigte nicht in die Ermordung ihres Kindes ein. Dazu kam es auch nicht; vielleicht beruhigte sich der Säugling, vielleicht aber löste auch ein Mann die Spannung, der sagte: „Dieses Kind wird unser Maskottchen sein, es bringt uns Glück.” Die Regeln der Erinnerung sind merkwürdig, von dieser ganzen Geschichte erinnere ich mich augenscheinlich gerade an diese Worte – vielleicht, weil aus ihnen Hoffnung hervorlugte. Tatsächlich kam bald darauf der Hauswart und öffnete den Keller. Die Mannschaft, bei der den Deutschen die sogenannten „Šaulis” und „Czubaryks” halfen, hatte sich getrollt. Diesmal war es gelungen, den Weg zum Umschlagplatz zu vermeiden.

      Ich weiß nicht, wie lange wir uns in dem Keller aufhielten, sicherlich einige Stunden. Aber selbst wenn ich es wüsste, hätte das keine größere Bedeutung, denn eine solche Zeit lässt sich nicht mit einfachen Maßstäben messen, in derlei Momenten sind dies wenig hilfreiche Werkzeuge. Ich denke auch deshalb so darüber, weil der Aufenthalt in dem Keller in mir bis heute andauert und nicht mit dem Öffnen der Tür beendet war – und das nicht nur, weil mit dem Augenblick, in dem diese konkrete Bedrohung endete, die Gefahr nicht vorüber war. In einer Welt, in der der einzige Gesetzgeber und Regelsetzer ein systematisch nach einem vorab beschlossenen Plan vollzogenes Verbrechen ist, haben Bedrohungen und Gefahren kein Ende, ihre finale Phase kann eigentlich erst seine Erfüllung sein, die vollständige Durchführung, nach der nichts mehr übrig ist. Natürlich war ich mir dessen im Sommer 1942 nicht bewusst, ich war noch nicht einmal acht Jahre alt. Aber ich denke, dass die meisten Erwachsenen schon davon wussten. Ganz sicher waren sich diejenigen dieses Sachverhalts bewusst, die meinten, der Grundsatz contra spem spero, die Hoffnung stirbt zuletzt, fände hier keine Anwendung – denn wenn es um alles oder nichts geht, zeigt sich, wie nutzlos er ist.

      Das war meine erste Konfrontation mit einem derartigen Eingeschlossensein. Ich hatte schon früher erfahren, was es damit auf sich hat, als man uns aus dem kurzlebigen Ghetto in Pruszków ins Warschauer Ghetto gebracht hatte; diese Fahrt in einem Zug, den man nicht verlassen konnte, dauerte zwei Tage, obwohl mein Heimatstädtchen nur etwa 15 Kilometer von der Hauptstadt entfernt liegt. Dennoch war das etwas anderes.

      Ich erinnere mich erst ab einem bestimmten Augenblick an ihn, als wir uns in der Menschenmenge befanden, die sich auf der Fahrbahn dahinschleppte und nicht nur von Deutschen und ihren ukrainischen und litauisch-lettischen Helfern, sondern auch von jüdischen Polizisten getrieben wurde. Ich vermag nicht zu berichten, wie man uns aus dem Haus gejagt hatte, diese Episode ist aus meinem Gedächtnis gelöscht – sicherlich deshalb, weil ich so erschrocken war, dass ich nicht bewusst wahrnahm, was geschah. Ich bin aber sicher, dass man uns aus der Wohnung jagte und nicht aus dem Keller; vielleicht waren meine Eltern der Meinung gewesen, dass es keinen Sinn mehr machte, sich zu verstecken, vielleicht wurden sie überrascht, weil sie nicht erwartet hatten, gerade an diesem Tag herausgeholt zu werden. Ich bedauere, dass ich sie zu ihren Lebzeiten nicht danach gefragt habe. Vielleicht hätten sie auf meine Frage antworten können, obwohl sie über ihre Erfahrung einen Mantel des Schweigens hatten fallen lassen und nicht gerne darauf zurückkamen, als wäre das Erinnern gleichbedeutend mit einer Erneuerung des Leidens, das man zwar nicht vergessen kann und darf, über das man aber auch schwer sprechen kann.

      Ich erinnere mich, dass wir Gepäck trugen, Vater einen Rucksack, Mutter eine Tasche. Darin hatten sie sicherlich die grundlegendsten Dinge untergebracht, vielleicht hatten sie etwas zu Essen hineingepackt. Ich weiß nicht, ob sie diese kleinen Gepäckstücke im letzten Moment gepackt hatten oder ob sie schon fertig waren, um in dem Augenblick mitgenommen zu werden, in dem das eintreten würde? Ich weiß nicht, ob sie glaubten, dass wir sie brauchen würden, oder ob sie sie mitnahmen, weil man nicht ohne Gepäck auf eine Reise geht, weil man sie für alle Fälle mitnimmt, selbst wenn man direkt ins Gas fährt. Ob sie schon damals wussten, dass der Weg dorthin führt? Oder machten sie sich noch etwas vor? Diese Frage betrifft natürlich nicht nur sie: An diesem Tag hatten die meisten – oder vielleicht alle – irgendwelche Bündel dabei, irgendwelche Sachen, selbst wenn sie ganz bescheiden waren, doch ich weiß nicht, ob diese Sachen ein Zeichen dafür waren, dass trotz allem irgendwo tief im Bewusstsein der Glaube an die Rettung glomm. Natürlich weiß ich nicht, was ich selbst damals fühlte – außer Angst und Entsetzen. In vielen Situationen, vor allem dieser Art, hat das Kind den Status eines Gegenstands, was umso offensichtlicher ist, als der Status willenloser Wesen allen zu eigen war, die in dem Marsch zum Umschlagplatz getrieben wurden. Meine Eltern sorgten zweifellos dafür, dass ich nicht alle Hoffnung verlor.

      Ich erinnere mich nicht an den Anfang dieses Tages, doch denke ich, dass er so war wie die anderen Tage in der Zeit der Liquidierung und Deportationen. Und darüber kann ich etwas sagen: Wir wohnten unmittelbar an der Mauer, aus den Fenstern unseres Zimmers konnte man die arische Seite sehen und hören. Wir hörten und sahen Abteilungen im Gleichschritt zum Ghetto marschieren und Nazi-Lieder brüllen, von fern erreichte uns auch das Klappern der Schuhe. Es bestand kein Zweifel, zu welchem Zweck sich diese Abteilungen auf die andere Seite der Mauer begaben. Die Aktion war in vollem Gange. Auch dieser Tag begann sicherlich auf diese Weise. Aber wussten wir, dass wir genau jetzt auf den Umschlagplatz kommen würden?

      Wie gesagt, ich erinnere mich an diesen Menschenzug erst ab einem bestimmten Augenblick. Als wir uns dem Ziel näherten, wurde eine Selektion durchgeführt. So hieß das – das Wort „Selektion” hat sich so stark damit verbunden, dass ich es bis heute nicht ruhig verwenden kann, obwohl ich mir bewusst bin, dass es in unterschiedlichen Zusammenhängen vorkommen und sich auf verschiedene Bereiche der Wirklichkeit beziehen kann. Die Selektion beruhte darauf, dass aus dem Menschenstrom einige wenige abgesondert wurden, die an diesem Tag nicht zur Deportation vorgesehen waren, sie sollten dableiben. Als wir an der Reihe waren, schien es mir, als seien wir zum Bleiben bestimmt worden. Ich war mir nicht darüber im Klaren, dass es die letzte Reise war, aber dennoch zog ich es vor, sie zu vermeiden, ich wollte nach Hause zurückkehren. Ich begann vor Freude zu hüpfen – einen Augenblick lang war ich glücklich. Erst nach zwei, drei Minuten dämmerte es mir, dass wir uns nicht unter den Auserwählten befanden, sondern in der Hauptgruppe, unterwegs zum Umschlagplatz. Die Begeisterung verwandelte sich in Verzweiflung. Von dem ganzen Tag erinnere ich mich an diese Episode am besten.

      Als wir zum Umschlagplatz kamen, standen schon Güterwaggons bereit, der Zug schickte sich offenbar zur Abfahrt an. Es herrschte Gedränge; die Deutschen hatten an diesem Tag mehr Menschen zusammengetrieben, als sie fortbringen konnten, ein Teil musste bleiben. Ich erinnere mich daran, dass einige mit großen Buchstaben ihre Namen auf die Rucksäcke geschrieben hatten. Es war heiß, die Sonne schien, die Hochsaison des großen Sterbens fiel auf den Höhepunkt des Sommers. Das widerspricht dem, was ich geschrieben habe, dass über dem Ghetto die Sonne nicht schien. Doch wenn sie sich zeigte, so war auch sie unmenschlich, grausam und brachte, wie alles innerhalb der Mauer, Leiden. Sie brachte keine Hoffnung und peinigte die Todgeweihten noch stärker. Ein Gespräch zwischen meinen Eltern ist mir in Erinnerung geblieben. Mutter schlug vor, schneller mit allem fertig zu werden und sich zum Zug vorzudrängen, um mit dem Transport mitzukommen, der bald abfahren sollte. War sie sich voll darüber im Klaren, dass dies die Deportation in den Tod war? Vater war anderer Meinung. Er glaubte, dass wir uns so weit wie möglich


Скачать книгу