Schwarze Jahreszeiten. Michal Glowinski

Schwarze Jahreszeiten - Michal Glowinski


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dem finalen Akt zusammen. Die Mechanismen des Erinnerns unterliegen jedoch keiner rücksichtslosen Logik und keiner Hierarchie der Wichtigkeit. Damals, am Ende der 1930er-Jahre, konnte nicht nur ich, der ich damals nicht älter als vier war, sondern überhaupt niemand vermuten, dass dieser bescheidene Provinzkaufmann zu einer solchen Tat fähig sein würde. Und obwohl das Grauen bereits an die Tür klopfte, konnte sich auch in diesen Jahren niemand vorstellen, dass jemand Gaskammern in Betrieb nehmen würde, um darin mit industriellen Methoden zu morden.

      Im Zusammenhang mit der Shoah ist oft vom „würdevollen Tod” die Rede, und gelegentlich gibt es wenig gescheite und leichtsinnige Meinungen dazu. Jeder, der durch verbrecherische Urteile starb, ist würdevoll gestorben – das muss gesagt werden, selbst wenn man Brutus recht gibt, der, unmittelbar bevor er seinem Leben ein Ende setzt, in Shakespeares Julius Cäsar sagt: „Der Feind hat uns zum Abgrund hingetrieben. / Es ziemt sich mehr, von selbst hineinzuspringen, / Als zu erwarten seinen letzten Stoß.” Es gab nur unterschiedliche Stile des Sterbens. Stile der Opfer, die sich ohne Proteste in die Gaskammern bringen ließen, und die Stile derer, die es vorzogen, aktiv zu sterben. Die einen – wie die Aufständischen des Ghettos – leisteten Widerstand, andere begingen Selbstmord. Ein Mensch, der so alt war wie mein Großvater, konnte nur den Selbstmord wählen.

      Die Bohnen und die Geige

      Es war gleich zu Beginn der Zeit, in der meine Eltern im Többens-Shop arbeiteten. Ich war damals schon ein so bewusster Teilnehmer und Beobachter der Ereignisse, dass ich verstand, was mit dem Wort Shop assoziiert wurde, das in dieser Bedeutung wohl weder davor und noch danach verwendet wurde. Auch der Namen Többens war mir nicht fremd, schon deshalb, weil er mir ständig zu Ohren kam. In dieser Firma unterzukommen, in der die einzige Art von Arbeit Zwangsarbeit war, bot die Hoffnung, der Deportation zu entkommen, erlaubte es, an eine Überlebenschance zumindest zu denken. Der Shop von Többens, zu dem sich meine Eltern täglich begaben und von dem sie bei verschiedenen Gelegenheiten sprachen, blieb für mich ein ferner und unbekannter Raum. Ich war nie dort, ich wusste nicht, wie er aussah und wo er sich befand, ich hätte ihn nicht unterbringen können auf der Karte des schrumpfenden und sich immer weiter entvölkernden Ghettos. Mein einziges Terrain blieb die Wohnung – eigentlich nur ein Zimmer –, in der wir uns seit längerer Zeit aufhielten, in einem Haus, das sich gleich an der Mauer befand und nach der Aktion, die auch eine räumliche Verkleinerung des Ghettos verursacht hatte, in ihm verblieben war. In den Winkeln dieser Wohnung sollte ich mich so gut wie möglich verstecken, wenn Gefahr drohte. Oft hielt ich mich hier übrigens allein auf, obwohl die Eltern eigentlich versuchten, zu unterschiedlichen Schichten in den Shop zu gehen.

      Einst war die Wohnung belebt gewesen, viele Personen hatten hier Unterschlupf gefunden. Das begann sich in der Zeit zu ändern, von der ich jetzt erzähle, die erste Phase der Deportationen näherte sich ihrem Ende oder war bereits beendet. Ich könnte von wirklich großen Bevölkerungsbewegungen in der Wohnung sprechen. Verschiedene Personen kehrten nicht zurück, weil sie vom Umschlagplatz ihren letzten Weg antraten, der direkt zum Gas führte, einigen gelang es, auf die arische Seite zu wechseln. Nur an wenige von ihnen erinnere ich mich. In meinem Bewusstsein ist Frau Franka geblieben, die kurz zuvor ihr einziges Kind verloren hatte, einen Jungen in meinem Alter oder jünger. Sie war eine Bekannte meiner Familie aus der Vorkriegszeit. Sie überlebte, behielt nach dem Krieg Vor- und Nachnamen aus der Besatzungszeit und war bis zum Ende ihres langen Lebens als Frau Natalia bekannt. Irgendwo am Rand meiner Erinnerung taucht eine anonyme Frau auf, die sich nicht lang in der Wohnung aufhielt. Festgesetzt hat sie sich nur durch eine Erzählung, ja vielleicht nur durch einen Satz. Sie berichtete von der Selektion, bei deren Durchführung den Deutschen ein gewisser Jude half, ihr Bekannter von vor dem Krieg. Mit tiefer Überzeugung seufzte sie: „Was für ein ordentlicher Mensch!”, da er bewirkt hatte, dass man sie diesmal in Ruhe ließ. Als der Deutsche auf sie zeigte, habe er ihm nahegelegt, eine andere zu nehmen.

      Mich beschäftigen die Mechanismen der Erinnerung, die dazu führen, dass sich gerade diese Äußerung in ihr erhalten hat und gewissermaßen für immer konserviert wurde, während sich so viele andere Sätze und Ereignisse verflüchtigt haben und auf keine Weise mehr rekonstruiert werden können. Ich kann es nicht erklären, schließlich war mir nicht bewusst, wie schrecklich das war, was diese Frau erzählte. Die moralische Reflexion eines knapp achtjährigen Kindes kann die Aussage von derlei Erklärungen nicht begreifen und bewerten. Das Kind kann nicht darüber nachdenken, wie die Wirklichkeit, in der es lebt, die Entstehung von Kriterien bei der Beurteilung von Einstellungen und menschlichen Verhaltensweisen beeinflusst, wie sie dazu zwingt, in Kategorien zu denken, die sich, wenn die Dinge günstiger gelaufen wären, sicherlich nicht ausgeprägt hätten. Es bleibt jedoch eine Tatsache, dass ich mir gerade diesen Sachverhalt behalten habe, obwohl er mich gar nicht interessiert haben dürfte. Umso mehr, als ich diesen jüdischen Kollaborateur nie gesehen hatte und seinen Namen nicht kannte, auch nicht wusste, wer diese „eine andere” war.

      Ich erzähle hier nicht die Geschichte dieser Frau, über deren Schicksal mir nichts bekannt ist, ich weiß nicht, ob es ihr gelang, sich vor Treblinka zu retten. Ich will vielmehr von drei Schwestern erzählen, die – freilich nur kurz – ein Zimmer in der Wohnung belegten, in der auch wir wohnten. Ich erinnere mich an ihren Nachnamen: Urstein. Ihr Bruder, der gleich zu Beginn der Besatzungszeit gestorben war, war ein bekannter Musiker. Er hat einen Eintrag in der Mała Encyklopedia Muzyki, im Kleinen Musiklexikon: „Urstein, Ludwik, geb. 1874 in Warschau, gest. am 5.10.1939 ebd., polnischer Pianist und Pädagoge. Er studierte am Warschauer Konservatorium. Bedeutender Begleiter und Kammermusiker.”

      Dieser unter anderem aufgrund zahlreicher Auftritte im polnischen Rundfunk geschätzte Künstler hatte Glück: Er starb zum richtigen Zeitpunkt, er umging das Ghetto und die mit ihm verbundenen Qualen. Doch seine Schwestern erlitten sie. Ich erinnere mich daran, wie sie aussahen: Sie waren schwarz gekleidet. Einander sehr ähnlich, kamen sie mir alt vor, obwohl sie sicherlich kaum die mittleren Lebensjahre überschritten hatten. Ich wechselte kein Wort mit ihnen. Sie hielten sich abseits und knüpften keinen Kontakt zu den Mitbewohnern, ich verbinde mit ihnen Stille und Schweigen. Sie sprachen wohl nur untereinander, und das flüsternd. Vielleicht wollten sie auf diese Weise ihre Privatsphäre bewahren. Vielleicht wurden sie aber auch von Unglück und Leiden erdrückt, sodass sie es vorzogen, diese in familiärer Isolation zu erdulden und nicht in der Lage waren, Kontakte aufrechtzuerhalten, auch nicht mit denen, die so wie sie zu Erniedrigung und Qualen verurteilt waren, zum Verlust ihrer Liebsten und zu unaufhörlichem Warten auf den Tod.

      Nichts Konkretes kann ich über diese Frauen sagen – ich weiß nicht, ob sie verheiratet oder Witwen waren, ich weiß nicht, ob sie jemals eigene Familien besaßen und sie im Zuge der Liquidierung des Ghettos verloren hatten, ich weiß nicht, ob sie einander schon immer so nahe standen oder ob erst der Aufenthalt hinter der Mauer diese Vertrautheit hatte entstehen lassen. Auf jeden Fall haben sie sich meinem Gedächtnis als Personen eingeprägt, die stets zusammen waren, als drei schwarze Gestalten, die gemeinsam die Wohnung verließen, um zur Arbeit in Többens Shop zu gehen, und gemeinsam zurückkehrten. Und eines Tages kehrten sie solidarisch – also wieder gemeinsam – nicht zurück. Es war schwer, nicht zu erahnen, was geschehen war: Sie waren zur Deportation ausgewählt worden, es fand sich kein „ordentlicher Mensch”, der sie davor beschützt hätte. Ich weiß natürlich nicht, wie das vorging. Vielleicht suchten diejenigen, die die Selektion durchführten, an diesem Tag alle drei heraus und verurteilten sie zum Tod im Gas. Vielleicht riefen sie auch nur eine heraus und die beiden anderen meldeten sich von selbst, weil sie beschlossen hatten, nicht nur gemeinsam zu leben, sondern auch im Familienkreis zu sterben. In solchen Fällen spricht man in der Regel davon, dass das Geheimnis mit ins Grab genommen wird, hier jedoch wäre diese Formel widersinnig, da die ermordeten Juden ihre Geheimnisse mit ins Gas nahmen.

      Ihre Geheimnisse nahmen auch die Schwestern Urstein mit, an die sich heute kaum jemand mehr erinnert, vielleicht auch niemand – außer mir. Doch ich rufe sie mir auf besondere Weise ins Bewusstsein, so wie man Gestalten und Ereignisse aus der Kindheit evoziert, auch aus der makabersten. Das ist ein karges Erinnern, nur wenig lässt sich daraus hervorluchsen: sie lebten … und sie kamen um …


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