Schwarze Jahreszeiten. Michal Glowinski

Schwarze Jahreszeiten - Michal Glowinski


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wichtig sind.

      Ich weiß nicht, warum sich gerade diese Szene meiner Erinnerung so tief eingeprägt hat, weil sie nichts an sich hatte, was ein wenige Jahre altes Kind faszinieren konnte: Ich ging mit jemandem aus der Familie – diesmal nicht mit Mutter – durch eine der überfüllten Straßen, und auf einmal sah ich auf der Fahrbahn eine Rikscha oder eine Droschke (Aber gab es im Ghetto damals Droschken? Es war eine der Natur beraubte Welt; ich erinnere mich nicht, dort jemals ein Pferd gesehen zu haben. Und darin ein festlich gekleidetes junges Paar, das offensichtlich von der Hochzeit kam. Die Frischvermählten wirkten glücklich, der Bräutigam hielt die Hand seiner Begleiterin. An diesen Schnappschuss ohne größere Bedeutung erinnere ich mich sicherlich aus zwei Gründen. Zunächst deshalb, weil er ein wenig aus einer anderen Welt stammte, über das hinausging, was die Realität ausmachte, in der ich lebte. Nicht ausgeschlossen, dass ich die Szene gesehen habe, als wäre sie aus einem Märchen. Es gab aber noch einen zweiten Grund: Das Paar kam zwar nicht in einer vergoldeten Karosse von seiner Hochzeit, zog aber dennoch die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich, die ihre Abneigung nicht verbargen: Eine Hochzeitsreise, selbst wenn sie nur von einer Straße des Ghettos in eine andere führte, passte offensichtlich nicht zur Wirklichkeit, sie schien unstatthaft zu sein. Ich erinnere mich daran, dass ein Junge dem Bräutigam zurief: „He du, halt sie fest, sonst läuft sie dir weg!” Vielleicht überlagert sich diese Szene mit einer anderen, von einem anderen Tag und einem anderen Ort – das mag ich nicht ausschließen –, doch scheint es mir, als hätte ich damals gesehen, wie die Deutschen die Ghettostraßen filmten. Das Bild des Brautpaares sollte vielleicht die Propagandathese unterstützen, dass im Warschauer Ghetto Ruhe herrsche und das Leben normal verlaufe.

      Das nächste Straßenfragment, das mir in Erinnerung geblieben ist, besitzt einen ganz anderen Charakter, schon allein deshalb, weil es sich nicht um ein einmaliges und ungewöhnliches Ereignis handelte, sondern um eine sich mit großer Regelmäßigkeit wiederholende Szene; vielleicht wäre es nicht übertrieben, wenn man sie alltäglich nennen würde. Wenn ich zu dem von Fräulein Julia und Frau Bronisława erteilten geheimen Unterricht ging, stieß ich auf meinem – im Übrigen kurzen – Weg auf einen nicht mehr jungen, ausgemergelten Mann, der Geige spielte. Er fiedelte immer dieselbe Melodie; von einem der Erwachsenen erfuhr ich, dass es ein Fragment aus Mendelssohns Violinkonzert war. Man sagte, dass dieser Geiger vor dem Krieg Mitglied des Warschauer Philharmonieorchesters gewesen sei, erst das Ghettoelend habe ihn auf die Straße getrieben. Ich habe seine Gestalt immer noch vor Augen. Es war so wenig von ihm da, dass er in dem weiten grauen Mantel verschwand, der wohl in den guten Vorkriegszeiten maßgeschneidert worden war, nun aber an ihm herunterhing, als sei er für drei Kerle wie ihn gedacht. Er spielte stets, unabhängig vom Wetter, in einem Hut. Und auch dieser schien viel zu groß für ihn zu sein, sein Gesicht versteckte sich im Schatten der breiten Krempe. Alles, was mit ihm zu tun hatte – außer der Melodie, die er seiner Geige entlockte –, war grau, harmonierte also mit der allgemeinen Farbe des Ghettos. Ich weiß nicht, ob man ihm Spenden zuwarf, ich bin nicht in der Lage, mir vorzustellen, wie er sie einsammelte, denn seine beiden Hände waren mit dem Instrument beschäftigt. Es ist ihm wohl gelungen, etwas zu bekommen, denn er spielte ja jeden Tag, aber diese Summen genügten nicht, um die grundlegendsten Bedürfnisse zu stillen. Elend und Hunger prägten sich seinem Aussehen immer deutlicher auf. Ein in einen Mantel gehülltes, Geige spielendes Skelett.

      Ich habe schon die auf den Straßen liegenden, mit Papier bedeckten Leichen erwähnt. Ihr Anblick war die erste Begegnung mit dem Tod in meinem Leben – und hat sich meiner Vorstellungswelt tief eingegraben. Doch war es nach wie vor ein anonymer und unpersönlicher Tod, denn ich kannte keinen von denen, die ihr Leben auf den Ghetto-Bürgersteigen vollendeten. In der Zeit des großen Sterbens konnte sich aber auch die kindliche Erfahrung des Todes nicht auf derlei Fälle beschränken, sie breitete sich überall aus und nahm persönlichere Dimensionen an. Rasch begriff ich, worauf dies beruht: Es gab einen Menschen … und plötzlich gibt es ihn nicht mehr. Die Bewusstwerdung dieser Tatsache verband sich mit Entsetzen, rief eine schwer beherrschbare Angst hervor. Es kommt mir heute, nach Jahren, so vor, dass ich mich selbst unter den Bedingungen des Ghettos nicht an sie gewöhnen konnte, wo der Kontakt mit dem Sterben zu den alltäglichen, normalen und banal gewordenen Dingen gehörte.

      Meine erste Erfahrung des Todes, die nicht nur aus dem Anblick von auf der Straße liegenden Körpern bestand, hängt nicht mit dem Ableben einer mir nahestehenden oder mir überhaupt näher bekannten Person zusammen. Sondern mit jemandem, den ich einige Male gesehen hatte; ich wusste noch nicht einmal, wie er hieß (und ich weiß es bis heute nicht). Es war ein großer, sehr magerer und leicht gebeugter Mann, der – wie mir schien – mechanische Bewegungen vollführte. Überhaupt präsentierte er sich so, als sei er künstlich aus verschiedenen Teilen montiert worden. Auch der Kopf mit den seltsam aufgeblasenen Backen und der auf die Nase gerutschten Drahtbrille machte den Eindruck, als sei er mit Schrauben am Rest des Körpers befestigt worden. Dieser seltsame Mensch rief bei mir panische Angst hervor, und vielleicht erinnere ich mich deshalb so gut an ihn, auch wenn ich natürlich keine Garantie habe, dass dieses Bild von ihm, wie es sich in meinem Bewusstsein festgesetzt hat, der wirklichen Person entspricht (viele Jahre später stellte ich mir genauso einige Gestalten aus Hoffmanns fantastischen Erzählungen vor). Ich sah ihn, wenn ich zum Unterricht zu Frau Anna ging; er lebte in derselben Wohnung wie sie und war wohl ihr Vetter. Eines Tages, als ich zur gewohnten Stunde an die Tür klopfte, hörte ich, dass der Unterricht heute nicht stattfinden würde, weil dieser Mensch, der in mir allein durch sein Aussehen Furcht hervorgerufen hatte, gerade gestorben war. Rasch erfuhr ich, dass er sich in der vergangenen Nacht im Badezimmer erhängt habe. Das Bild dieses leblos hängenden Menschen verfolgte mich noch längere Zeit danach, und ich denke, dass ich genau damals, mit nicht mehr als sieben Jahren, begriff, was der Tod ist; dieser Mann, der etwas von einer Vogelscheuche besaß, wurde für mich zu seinem Sinnbild.

      Nur einmal sah ich eine Tötungsszene. Es geschah später, ich glaube in der Zeit unmittelbar vor dem Beginn der Aktion, der Deportationen nach Treblinka. Wir wohnten damals schon anderswo, unweit der Mauer, in einer Wohnung, in der die Küchenfenster auf einen für das alte Warschau so charakteristischen Innenhöfe mit Brunnen herausgingen. Ich hörte Schreie, wollte schauen, was geschieht. Auf der engen und schmalen Fläche waren einige Deutsche, an der Wand standen Männer. Die Hinrichtung begann. Ich weiß nicht, wer die Opfer waren und was die unmittelbare Ursache war, ich sah nur, wie nach einem Schuss ein Mensch hinfiel. Mutter zog mich vom Fenster weg, die nächsten Schüsse hörte ich nur noch, sie klangen merkwürdig in der Akustik des Brunnenhofes. Sie wollte nicht, dass ich Augenzeuge dieses schrecklichen Geschehens würde, selbst wenn ich schon so manches gesehen hatte, doch sie hatte auch Angst, dass die Deutschen nach oben schießen würden, auf diejenigen, die sich gerade aus dem Fenster lehnten. Ich weiß nicht, wie viele Personen damals umkamen, die Blutlache auf dem Hof war riesig. Diese Szene ist mir in Form eines Schnappschusses, eines Augenblickserlebnisses im Bewusstsein geblieben. Ich bin in Gedanken nicht sehr oft auf sie zurückgekommen, denn die Zeit des großen Sterbens erreichte soeben die Kulminationsphase und auch für ein Kind war es schwer, zu früheren Ereignissen zurückzukehren. In meinem Bewusstsein nahmen den ersten Platz zwei Worte ein, die man zuvor nicht gehört hatte: Umschlagplatz und Treblinka.

      Was ich jetzt erzählen werde, geschah bereits in der Zeit jener Kulmination, als diese beiden Wörter auf den Lippen aller lagen, die hinter den Mauern eingeschlossen waren. Es war erst der Beginn der Liquidierungsaktion; an diesem Tag waren wir an der Reihe, wir sollten zum Umschlagplatz gejagt – und direkt ins Gas gebracht werden. Meine Familie versteckte sich so wie ein guter Teil der Nachbarn (vielleicht alle?) in einem der am weitesten vom Eingang entfernt gelegenen, wenngleich mit Sicherheit nicht allzu gut getarnten Kellerräume. Soweit ich mich erinnere, wurde er vom Hauswart von außen verschlossen. Ich habe seine Figur vor Augen: Es war ein junger, großer und breitschultriger Mann. Er selbst versteckte sich noch nicht mit uns zusammen, sicher dachte er, dass ihn die ausgeübte Funktion vor der Deportation schützen würde, doch seine Frau war wohl bei uns. Und tatsächlich, diesmal wurde er nicht mitgenommen.

      Es fällt mir heute schwer, viel über unsere Zeit im Versteck zu


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