Schwarze Jahreszeiten. Michal Glowinski

Schwarze Jahreszeiten - Michal Glowinski


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      Auch wenn ich dabei war, weiß ich nicht genau, wie es dazu kam. Ich kann es nicht in aller Ordnung erzählen. Als der Zug nach Treblinka fortgefahren war, wurde es auf dem Umschlagplatz leerer. Eine Gruppe von Menschen war übrig geblieben, die – wie wir – am spätesten herbeigetrieben, aus den entferntesten Gegenden des Ghettos geholt worden waren. Wir kauerten – und jeder überlegte wahrscheinlich, wie er von hier fortkommen könnte. Auch meine Eltern dachten nach. Der Zufall kam uns zu Hilfe: Vater traf einen seit vielen Jahren nicht gesehenen Bekannten aus seiner Jugendzeit, der jüdischer Polizist war. Er bat ihn, uns das Entkommen zu ermöglichen. Der Bekannte führte uns in ein Gebäude am Rand und brachte uns in einem dunklen Raum unter, eine Art Abstellkammer oder ein enger Verschlag, in dem früher Haushaltsgeräte gestanden hatten. Wir sollten hier bleiben, bis die deutschen Abteilungen nach der Erledigung der für diesen Tag vorgesehenen Aufgaben das Ghetto verlassen würden. Und so kam es auch. Dieser Bekannte aus alten Jahren ließ uns durch einen Seitenausgang vom Umschlagplatz heraus, vielleicht war es auch ein Loch im Zaun.

      Wir waren gerettet, meine Eltern wurden gerettet, ich wurde gerettet. Eigentlich verstehe ich nicht, wie das geschehen ist, ich begreife nicht, wie das Schicksal gerade uns hold war. Ich wundere mich, ich wundere mich über alles. Ich wundere mich, dass ich lebe … Aber ich lebe, ich bin, ich existiere … Und ich erinnere mich!

      Das Törtchen

      Es fällt mir außerordentlich schwer, diese Erzählung zu beginnen. Nicht nur deshalb, weil in ihr Schrecken zu neuem Leben erweckt werden, zu denen man nicht zurückkehren möchte – obwohl es unmöglich ist, zu ihnen nicht zurückzukehren. Vor allem deshalb, weil die Zeit des Ghettos für mich einen Block darstellt, zumindest bis zu dem Augenblick, in dem die Deportationen begannen, als sich das, was noch kurz zuvor das Schlimmste gewesen zu sein schien, in etwas noch Schlimmeres verwandelte, in etwas so extrem Schlimmes, dass es keine Worte gibt, um darüber zu sprechen. Ich vermag es nicht, hier Differenzierungen vorzunehmen, ich kann diesen Block nicht kontrolliert überblicken. Vor allem aber bin ich in den meisten Fällen nicht in der Lage, das, an was ich mich als kleines Kind aus dem Ghetto erinnere, von dem zu trennen, was ich später gehört und gelesen habe. Ich bin mir also darüber im Klaren, dass ich ohne zu wiederholen, was schon gesagt worden ist, ohne Bedenken lediglich über eigene Erfahrungen erzählen kann, darüber, was ausschließlich mir gehört. Die Geschichte, die ich hier erzähle, erfüllt diese Bedingungen.

      Sie begab sich zu Beginn unseres Aufenthalts im Warschauer Ghetto, bald nachdem wir aus dem kurz bestehenden (man möchte fast sagen: ephemeren) Ghetto in Pruszków umgesiedelt worden waren. Wir wohnten zunächst in der Nähe der Holzbrücke, welche die beiden Seiten der ulica Chłodna miteinander verband, die Landschaft dieses Stadtteils mitbestimmte und sich so gut meinem Gedächtnis eingeprägt hat, dass ich sie bis heute vor Augen habe. In unserer Familie waren die grundlegenden Bedürfnisse gestillt, Hunger erlebte ich in dieser Zeit nicht. Alles aber, was diese Grundlagen überschritt, konnte nur Gegenstand kindlicher Sehnsüchte sein und hatte natürlich eine gewaltige, fantasieanregende Anziehungskraft. So geschah es auch, als mir ein Törtchen als Belohnung versprochen wurde. Zur Belohnung, denn ich war krank: Ich hatte – wenn ich mich nicht irre – eine langwierige Grippe mit irgendwelchen Komplikationen, vielleicht hatte mich auch der Keuchhusten erwischt; ich war insgesamt ein Kind, das keine besonderen Schwierigkeiten machte, doch ein lästiger, geradezu schrecklicher Patient, ich ließ mich nicht anrühren, blieb nicht still, quengelte. Das Törtchen sollte eine Prämie für gutes Verhalten in dieser Rolle sein. Meine Sehnsüchte konzentrierten sich auf das Törtchen, ich lebte nur dafür und konnte die Zeit nicht abwarten, in der ich wieder gesund sein und mit Mutter in einen nahen Laden gehen würde, wo wir diesen großartigen, so lange erwarteten Einkauf tätigen würden. Wir waren oft an diesem Laden vorbeigegangen, doch war ich nie darin gewesen. Die Auslage, in der meist zwei oder drei Törtchen zu sehen waren, war für mich eine ungewöhnliche, unzugängliche und zauberhafte Welt.

      Endlich kam der ersehnte Moment. Ich wählte ein Törtchen aus, das mir am besten gefiel und das, wie ich mir ausmalte, am leckersten sein würde. Doch ich aß es nicht an Ort und Stelle. Mutter erklärte mir, dass ich es zu Hause essen sollte, in Ruhe, denn es sollte eine richtige Feierlichkeit sein, eine Art Ritual. Ich erinnere mich, wie es aussah: Außen hatte es eine Schicht aus rotem Gelee. Die Verkäuferin packte es elegant ein und band ein dünnes, farbiges Band herum. An diesem Band hielt ich das ersehnte Stück, das mir wohl seit einer Woche versprochen worden war. Ich war glücklich und sah überhaupt nicht vorher, was gleich geschehen sollte. Wir waren kaum einige Meter gegangen, als ein abgerissener Bengel auf mich zusprang (solche Kinder nannte man im Ghetto oc-rachmunes), mit Sicherheit etwas älter als ich, aber nicht viel – und mir dieses so wertvolle und so heiß ersehnte Päckchen aus der Hand riss. Er lief nur ein paar Schritte fort und machte sich schon im Laufen ans Essen. Alles geschah wirklich im Handumdrehen. War er so schrecklich hungrig, dass er es nicht aushalten und keinen Augenblick warten konnte? Oder hatte er Angst, dass ihm die Beute fortgenommen werden würde? Es ist ein halbes Jahrhundert und noch viel mehr vergangen, doch bis heute sehe ich diese Szene mit solcher Deutlichkeit vor mir, als hätte sie sich gerade eben erst zugetragen, erst gestern, höchstens vor einer Woche. Ich sehe, wie dieser abgerissene Bengel, ein lebendiges und ausgehungertes Skelett, das Törtchen verschlingt, als wollte er es zusammen mit dem Papier herunterschlucken.

      Dieses Ereignis war ein Schlag für mich, gewissermaßen brach eine Welt für mich zusammen. Ich zählte knapp sieben Jahre und wusste schon, dass ich mit allen anderen in einer schrecklichen Wirklichkeit lebe. Doch natürlich verstand ich sie noch nicht ganz, und das Schlimmste hatte ich – dank den Eltern, die mich schützten, wie sie nur konnten – noch nicht kennengelernt; Leiden infolge von Hunger war mir damals noch nicht bekannt. Ich reagierte mit krampfhaftem Weinen, das ich überhaupt nicht in den Griff kriegen konnte, es wurde immer stärker, wandelte sich zu einem Heulen und Zähneknirschen. Ich glaube, dass es schon damals um etwas mehr ging als nur um dieses unglückliche Törtchen. Ich erkannte, wie furchtbar die Welt ist, ich begriff, dass nichts mehr nach meinem Wunsch geschehen wird, dass ich Aggression ausgesetzt bin und mir das genommen wird, was ich gerne für mich hätte und woran mir lag. Ich hatte schon früher ungeheuerliche Dinge gesehen, ich hatte auf den Straßen des Ghettos liegende Leichen gesehen, bedeckt mit einem merkwürdigen Papier, dessen erdige Farbe schwer zu beschreiben ist, und sie hatten Eindruck auf mich gemacht. Doch diese Geschichte mit dem Kuchen war die erste grausame Lektion, die mir so direkt und so persönlich erteilt wurde.

      Wenn ich heute daran denke, stellt sich mir eine Frage: Wie hat man versucht, mich zu trösten und mir zu erklären, was geschehen war? Ich bin sicher, dass mein Großvater, der die Mentalität eines Besitzers hatte und für den Eigentum unabhängig von den Umständen stets Eigentum war, den Angreifer bedingungslos verurteilte. Aber was haben mir die Eltern gesagt? Was habe ich von ihnen gehört? Haben sie mir erklärt: Es ist etwas Schlimmes geschehen, etwas sehr Unangenehmes, doch du musst eines verstehen – dieser unglückliche, zerlumpte Junge war hungrig, und du warst nicht hungrig, dir ging es nur um die Annehmlichkeit? Ich gestehe, dass ich – heute – froh wäre, wenn man mir damals solche Worte gesagt hätte. Doch wie es wirklich gewesen ist, das weiß ich nicht. Und ich werde es nie mehr erfahren.

      Emil

      In dieser Zeit besuchte ich den Unterricht bei Fräulein Julia und Frau Bronisława, zwei Schwestern, die vor dem Krieg Lehrerinnen gewesen waren und für eine geringe Gebühr eine Gruppe von mehreren Kindern unterrichteten. Es war nicht mein erster Unterricht, denn zuvor hatten mich die Eltern in eine winzige, private Schule geschickt, die von Frau Anna geleitet wurde. Wir wohnten zuerst in den Randgebieten des Ghettos. Als diese von den Deutschen dann ausgegliedert wurden, mussten wir umziehen. Auch Frau Anna wechselte ihre Adresse und es war nun zu weit, um bei ihr in die Schule zu gehen, zumal die Straßen des geschlossenen Wohnbezirks immer gefährlicher wurden und man nie wissen konnte, was geschehen würde. Das Zimmer, in dem Fräulein Julia und Frau


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