Schwarze Jahreszeiten. Michal Glowinski

Schwarze Jahreszeiten - Michal Glowinski


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keine Familie mehr, die all das, was sie hinterlassen hatten, übernehmen und ordnen konnten. Das Zimmer, das sie vor nicht allzu langer Zeit bezogen hatten, war zu Niemandsland geworden, und die Dinge, die ihnen noch gestern gehört hatten, konnte sich jeder, der wollte, aneignen. Im Ghetto hörten in der Zeit der Liquidierung die meisten Gesetze zu gelten auf, das Eigentumsrecht hatte seinen Sinn verloren, wo doch das Eigentum noch vor Kurzem vielen Menschen als heilig gegolten hatte. Wertvolles konnte ebenso wie Wertloses herrenlos werden, herrenlos wurden auch die persönlichen Erinnerungsstücke, die noch am Vortag für jemanden sehr kostbar gewesen waren.

      Dessen war sich zweifellos ein junger Mann bewusst, den niemand unter denen, die immer noch in der Wohnung ausharrten, kannte. Er erschien einige Tage nach dem Verschwinden der Schwestern Urstein, erklärte, er wisse, dass sie eine wertvolle Geige hinterlassen hätten, und sagte, dass er sie mitnehmen wolle. Anfangs fragte man ihn aus, welches Recht er darauf habe. Mit Sicherheit waren das keine allzu weitreichenden Ermittlungen, denn dieser Unbekannte legte keine Beweise vor, die seine Ansprüche hätten begründen können. Doch man sprach mit ihm; das Instrument konnte nun ihm ebenso gehören wie jedem anderen. Das Zimmer der Schwestern Urstein war verschlossen, den Schlüssel hatten sie mit auf ihre letzte Reise genommen. Man musste es also auf andere Weise öffnen. Die Tür wurde nicht aufgebrochen, sie ließ sich leicht öffnen, fast ohne Mühe. Und tatsächlich, die Geige befand sich an einem exponierten Platz. Der Herr, der gekommen war, um sie zu holen, sagte, sie sei alt und wertvoll, er nannte sie die Violine von Ludwik Urstein. Aber hat Ludwik Urstein tatsächlich auf ihr gespielt? Er war schließlich Pianist, der zwar Geiger begleitete, aber kein Virtuose auf diesem Instrument. Vielleicht gehörte sie einer der Schwestern und sie hatte darauf gespielt? Ich weiß natürlich nicht, wie sich die Dinge verhielten, ich weiß nicht, wer der Mann war, der sie mitnahm, ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Vielleicht konnte sie das Ghetto verlassen, denn in dieser Zeit konnte sie hier schließlich niemand mehr gebrauchen, in der Zeit der Deportationen, als der Umschlagplatz zum zentralen Ort innerhalb der Mauern wurde, spielte niemand mehr irgendetwas. Vielleicht gelangte sie so heraus wie die Menschen, die vor der Vernichtung auf die arische Seite flohen. Vielleicht ist sie erhalten geblieben und dient – wenn sie wirklich gut war – heute einem Künstler, der Bach und Beethoven darauf spielt, ohne sich bewusst zu sein, welch dramatische Geschichte sie hat. Aber vielleicht ist sie auch zerstört worden, ist im schrecklichsten Sinn des damals fundamentalen Wortes „untergehen” untergegangen, zusammen mit dem jungen Mann, der meinte, sie müsste nach dem Verlust der Schwestern ihm gehören. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er Geiger war und an seinen letzten Lebenstagen auf einem ordentlichen Instrument spielen wollte.

      Ich könnte noch lange Mutmaßungen anstellen, doch ich möchte lieber über das berichten, woran ich mich erinnern kann. In diesen Erzählungen über das Ghetto beschäftigen mich nicht die möglichen Welten, sondern mich interessiert, was in seinem Wesen noch kurz zuvor unmöglich gewesen zu sein schien – und zwar aus vielen Gründen –, nun aber Wirklichkeit war, die schrecklichste Realität aller Wirklichkeiten war, die noch vor zwei oder drei Jahren überhaupt nicht denkbar gewesen waren. Wirklichkeit war zweifellos das Zimmer, das die Schwestern Urstein hinterlassen hatten. Es war nun ohne Besitzer, offen, für jeden zugänglich, der es betreten wollte. Vater ging hinein, und ich mit ihm. Ich kann nicht sagen, wann das geschah, gleich nach dem Abschied des Mannes mit der Geige oder etwas später. Für mich, der auf Dauer in der Wohnung eingesperrt war, der die Welt schon lange nicht mehr betrachtet hatte und keine anderen Freuden kannte, war das gewiss eine Abwechslung und Attraktion: etwas zu sehen, was ich bis dahin nicht gesehen hatte, zumindest nicht im jetzigen Zustand. Denn ehe die drei Schwestern es bezogen hatten, hatte ich mich oft in diesem Zimmer aufgehalten.

      Sie hatten hier nur wenige Tage gewohnt, hatten sich noch nicht einleben und einrichten können, alles lag herum und war in Unordnung. Vielleicht wollten sie aber auch gar keine Ordnung herbeiführen, in dem Bewusstsein, dass dies ein Provisorium kurz vor dem Tod war, dass jedes Bemühen um Ordnung und jedes Wurzelschlagen, sofern es überhaupt möglich gewesen wäre, ein Betrug an ihnen selbst war – in der Zeit vor dem Tod. Der Unordnung kam entgegen, dass es in dem Zimmer fast keine Möbel gab. Mit Sicherheit fehlte in ihm ein Schrank, und so lagen verschiedene, die elementarsten, für die bescheidenste Existenz notwendigen Gegenstände offen herum: ein paar Teller, vielleicht auch Küchengeschirr, vor allem aber Teile der Garderobe. Das war alles, was von den Schwestern geblieben war. Diese Unordnung wurde zu einem Zeichen eines plötzlich und gewaltsam unterbrochenen Lebens, eines Lebens, dem sich keine Chance mehr bot.

      Vielleicht waren auch einige Essensreste geblieben und ganz sicher etwas, was einen Schatz darstellte: eine Tasche mit einigen Kilo Bohnen. Diesen Vorrat hatten die Schwestern sicherlich für eine schwarze Stunde angelegt, für eine Zeit schlimmen Hungers. Ich erinnere mich, dass Bohnen im Ghetto ein besonders geschätztes Nahrungsmittel waren. Dieser Schatz war nun, so wie die Geige, herrenlos, ein Gut ohne Besitzer. Vater nahm ihn und wir aßen diese Bohnen eine Zeit lang und teilten sie sparsam in Portionen auf, damit sie länger reichten.

      Aber bald wurden auch unsere Habseligkeiten herrenlos. Wie verließen das Zimmer und ließen alles zurück. Ich weiß nicht, ob es noch jemand geschafft hat, von diesen Dingen Gebrauch zu machen, zu essen gab es darunter eher nichts. Wir verließen das Zimmer, zum Glück nicht zum Umschlagplatz und in die Öfen der Krematorien getrieben – wir gelangten auf die arische Seite.

      Das Verlassen

      Ich gebrauche dieses Wort nur deshalb, weil ich kein anderes bei der Hand habe, eines, das passender wäre. „Flucht” ist für mein Gefühl noch weniger angemessen. Freilich, es hat großartige Konnotationen, es lässt an die biblische Welt denken, doch würde ich den Ausdruck „Exodus” nicht verwenden, weil er in Bezug auf derlei Ereignisse sowohl viel zu erhaben als auch zu prätentiös klänge. Und wenn von einer furchtbaren Welt die Rede ist, von einer der furchtbarsten, welche jemals Menschen bereitet wurde, sind alle erhabenen und feierlichen Worte überflüssig. Ein Missklang stiehlt sich in sie hinein. In den Geschichten, aus denen sich die Shoah zusammenfügt, gibt es noch nicht einmal Analogien zu den grausamsten Episoden der Bibel. Auch in den Fragmenten, in denen nicht vermieden wurde, von erschütternden, ungeheuerlichen Ereignissen zu erzählen, hat die Heilige Schrift stets gewisse Werte festgelegt, hat angenommen, dass es in der Welt eine gewisse Ordnung gibt, die ihren Sinn hat. In der Shoah gab es so etwas nicht. Hier war ein System des Verbrechens am Werk, und in dem, was zur Rettung menschlichen Lebens führte, spielten Zufälle eine gewaltige Rolle – dunkle und unermessliche, die sich nicht beherrschen, verstehen, ordnen lassen.

      Ich habe diese allgemeinen Erörterungen gerade hier aufgegriffen, weil das Wort „Verlassen” mich darauf gebracht hat, obwohl sie auch in die anderen Erzählungen passen würden. Ich weiß nicht, aus welchem Grund es eine Konvention geworden ist, vom „Verlassen des Ghettos” (wyjście z getta) zu sprechen, wenngleich man auf Polnisch nicht sagen kann: „das Verlassen des Konzentrationslagers” – und zwar sowohl dann, wenn es um eine dramatische, höchst risikoreiche Flucht ging, als auch dann, wenn man an eine Freilassung denkt (die natürlich im Fall der Juden ganz unvorstellbar war). Also unser Verlassen – das meiner Eltern und meines – des Ghettos erfolgte gleich Anfang Januar 1943, wohl einen Tag nach Neujahr. Wir verließen es als letzte von dem Teil der Familie, der innerhalb der Mauern lebte und ein geschlossenes Ganzes bildete. Ich denke nicht an die Großeltern, die aufgrund eines reinen Zufalls noch vor Beginn der Deportationen auf die arische Seite gelangt waren, ein außergewöhnlicher Zufall, der für sie unerwartet gnädig war. Ich denke an meine beiden Tanten, die eine nach der anderen mit ihren Kindern herauskamen. Und dann an ihre Männer: Beide gelangten etwas später über die Mauer und kamen kurz darauf ums Leben.

      Diejenigen Verwandten sowohl meiner Mutter als auch meines Vaters, die an anderen Stellen des Ghettos wohnten, kamen nicht heraus – und nicht mit dem Leben davon. Sie machten sich von dort aus auf ihre letzte Reise, direkt nach Treblinka. Es ist unbekannt, an welchen Tagen das geschah und unter welchen Umständen genau. Als man versuchte, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, was zweifellos nicht leicht war, musste man feststellen, dass sie nicht mehr da waren. Sie waren, existierten, lebten – und dann waren


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