Illusion Tod. Johann Nepomuk Maier
Ich will noch etwas sagen darüber, wie wir die Welt wahrnehmen. Wir glauben jeder, wir sind alle Menschen, und dass jeder dasselbe meint, wenn wir über die Welt sprechen. Welt, das heißt die vom Menschen wahrgenommene Wirklichkeit. Wir haben alle nur fünf Sinne. Was wir wahrnehmen ist nur ein Teil des Ganzen. Man nimmt an, dass jeder Mensch dasselbe sieht, aber wir wissen heute, das ist gar nicht der Fall. Was man für wichtig hält, sieht man mehr, und was man für unwichtig hält, sieht man weniger oder überhaupt nicht.
Wir erleben mehr, als wir begreifen. Warum? Weil wir noch zu dumm sind, um das zu erklären. Also wird mehr geforscht, damit wir alles begreifen – und das ist es, was schief geht.
Wir erleben mehr, als wir begreifen – da gibt es etwas, was ich überhaupt nicht begreifen, und trotzdem erleben kann. Das wissen wir, denn wir haben nicht nur unsere fünf Sinne, sondern auch unsere Gefühle.
Ich will zum Beispiel sagen „Ich habe mich verliebt“. Ich kann das erleben, aber kann ich erzählen, begreifen, was es ist? Ich habe mich verliebt – Liebe ist es nicht. In dem Augenblick, in dem ich es begriffen habe, habe ich genau das kaputt gemacht, was ich zum Ausdruck bringen wollte.
Die Welt ist voller Möglichkeiten, dass wir miteinander umgehen können, ohne uns auf das Begreifen zu verlassen. Aber das Begreifen ist das, was für die Physik wichtig ist. Etwas, das man messen kann, dann hängt es nicht von dem Menschen ab, sondern ich kann es in ein Buch schreiben, und das Buch kann auch noch in 100 Jahren auf dieselbe Weise beschrieben werden. Das ist nun eine ganz wichtige Sache. Wir haben ja in Deutschland den großen Vorzug, dass wir das Wort Wirklichkeit haben. Wir verwenden kaum Realität. Geht auf das 13. Jahrhundert zurück. Meister Eckhart! Er hat gesagt, das ist es, was man Wirklichkeit nennt. Aber Wirklichkeit ist etwas ganz anderes als Realität. Wirklichkeit ist etwas, das wirkt, das sich verändert. Realität – ja, was ist Realität? Realität bedeutet, dass wir als Beobachter und das, was wir beobachten, getrennt sind. Subjekt guckt das Objekt an.
Echte Wissenschaft hat man nur, wenn man in seinen Aussagen ganz und gar objektiv ist. Wenn man sich mit seinem Ich abschneidet von dem, was man sieht. Subjekt und Objekt trennt sich.
Wenn sie das nicht trennen, können sie nicht veröffentlichen. Sonst kann es sein, dass man schlechte Laune hatte, und deshalb ein anderes Ergebnis bekommen hat. Ein Wissenschaftler muss zeigen, dass er blind das als Ergebnis hat.
Aber dieser Schnitt, das Subjekt vom Objekt abzutrennen, das ist das, was uns den Garaus macht. Das Objekt ist nicht nur ein Objekt, sondern isoliert, so dass es abtrennbar ist. Nicht nur vom Beobachter, sondern von allem anderen. Die Welt ist aus Dingen aufgebaut, und Ding heißt im Lateinischen „Res“. Die Realität ist die Welt der abgetrennten Bausteine, die dann zusammenspielen und alles Übrige machen, was wir jetzt beobachten. Das ist die alte Physik.
Sie werden selbstverständlich sehen, dass da das Lebendige nicht hängen bleibt. Durch diesen Schnitt habe ich nur Resultate, aber was ist das Lebendige dann eigentlich?
Probieren Sie es mal aus: Sie zerschneiden sich in Tausend Teile und kleben sie mit dem Uhu wieder zusammen, Sie kommen nicht wieder in die Situation, in der Sie angefangen haben.
Das heißt, die Realität kann nur angewandt werden, wenn das Unbelebte betrachtet wird. Die Physik macht ihre Experimente am Unbelebten; nicht nur aus Sympathie an den Menschen, sondern weil es einfacher ist.
In unserem alten Bild wird die Wirklichkeit als Realität identifiziert.
Hier kommt jetzt ein ganz wichtiger Punkt. Kein Mensch redet darüber, obwohl es einer der wichtigsten Punkte ist: Eine Charakteristik des Unbelebten. Das Dominante in der Naturwissenschaft ist Getrenntheit und Wechselwirkung. Im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik heißt es: Das Wahrscheinlichere passiert wahrscheinlicher. Ist das eine tiefgründige Aussage, dass das Wahrscheinlichere wahrscheinlicher ist? Natürlich ist es wahrscheinlicher! Aber es ist nicht trivial.
Schauen Sie sich Ihren Schreibtisch an, da sehen Sie es am besten. Zuerst ist er aufgeräumt. Nun haben Sie den ganzen Tag hart gearbeitet, jetzt ist er ein wenig durcheinander. Am Abend legen Sie sich hin, in der Nacht passiert immer das umgekehrte wie am Tag, man legt sich hin, steht wieder auf, aber der Schreibtisch hat sich nicht aufgeräumt. Das heißt, auch nachts geht es in diese Richtung, das wahrscheinlichere passiert. Bis der Schreibtisch so durcheinander ist, dass ich eine Stunde rumstöbern kann, es wird nicht wahrscheinlicher.
Dann kommt man an etwas wie diesen Tisch. Der rührt sich nicht mehr, der ist schon angekommen.
Die Frage ist, wie kann in einer solchen Welt überhaupt etwas Lebendiges entstehen? Leben ist so unwahrscheinlich, wenn Sie das ausrechnen, so unwahrscheinlich! Gilt da der 2. Hauptsatz etwa nicht? Er stimmt doch. Aber wir wissen genau, wenn wir unseren Schreibtisch aufräumen, brauchen wir eine ordnende Hand. Sie muss präzise vorgehen und alles an den richtigen Platz stellen. Am Schluss hat man zwei Häufchen und wir sagen, alles ist jetzt wieder in Ordnung.
Ich muss einen Blick darauf werfen: Erledigt – rechts, unerledigt – links. Ich brauche ein lebendiges Element, um überhaupt Leben in diese Unordnung hineinzubringen.
Wir können nicht überbetonen, es ist wunderbar, was wir alles mit den Gesetzen der Physik machen können. Ich sage es noch einmal: Es wird sich nicht als falsch herausstellen. Aber wenn wir sagen, exakt das, dann kommt es nicht heraus. Das liegt zum Teil daran, wenn wir als Physiker messen, müssen wir bestimmte Bedingungen stellen, damit es eine solide Messung wird.
Eddington hat es mit einem „Fischkundler“ verglichen, der das Leben im Meer erkunden will, und nach zwei Jahren des Fischfangs zu den ichthyologischen Gesetzen kommt: 1. Alle Fische sind größer als fünf Zentimeter. 2. Alle Fische haben Kiemen. Bei jedem Fang hat er das festgestellt. Dann geht er zu seinen philosophischen Freunden und sagt „Zwei Grundgesetze der Ichthyologie habe ich gefunden. Alle Fische sind größer als fünf Zentimeter und alle haben Kiemen.“ „Alle? Du hast nur zwei Jahre geforscht, es kann sein, dass alle Fische Kiemen haben, es kann aber auch sein, dass es noch etwas anderes gibt. Aber das erste ist überhaupt kein Gesetz! Wenn du die Maschen deines Netzes gemessen hättest, hättest du festgestellt, die sind größer als fünf Zentimeter. Du kannst mit dem Netz einfach keinen Fisch fangen, der kleiner ist.“
„Mein Philosophischer Freund, ich bin immer noch der Naturwissenschaftler, für mich ist ein Fisch definiert als etwas, was man mit diesem Netz fangen kann.“
So ist es. Das Netz ist in unserem Fall die Art, wie Wissenschaftler vorgehen. Wir zerlegen und zerlegen. Alles, was zu klein ist und kaputt geht beim Zerlegen, das können wir nicht, das machen wir später mal. Wir haben solche Regeln. Die Analyse ist das Instrument der Wissenschaft. Analyse heißt, auseinandernehmen.
Es ist eine gewisse Parallele darin, dass der Andere sagt: „Es gibt aber noch kleinere Fische“ und der Erste sagt: „Das interessiert mich nicht!“ Und ich bin nicht Fischkundler (Ichthyologist) gewesen, ich bin Fischer gewesen, und ich habe meine Fische am Markt verkauft. Ich habe am Markt nie einen Menschen gefunden, der einen Fisch wollte, den ich nicht fangen kann.
Hören Sie nur nicht auf die Wirtschaft! Die sprechen nur von den Dingen, die sie fangen können, und das andere ist ihnen egal.
Aber das andere, der kleinere Fisch, ist selbstverständlich eine Vorstufe des Fischs, den er gefangen hat.
„Ohne Instrumente sind die Menschen in einem kognitiven Gefängnis“ sagte Edward Wilson im Buch „Die Einheit des Wissens“. Also in einem Gefängnis, in dem man nur ganz Bestimmtes wahrnehmen kann. Er schreibt dann darüber, was es für Vorstellungen gibt. Und am Schluss sagt er: „Aber alles ist falsch. Sie irren sich immer wieder, weil die Welt zu weit weg ist von ihrer möglichen Erfahrung, um bildlich dargestellt zu werden.“
Er hat selbstverständlich Recht! Aber er meint, er sitzt nicht in einem Gefängnis. Dabei ist es noch enger dort, und die Knöpfe hat er selber gemacht. Selbstverständlich kann er mit dem umgehen, was er selber erzeugt hat. Aber wenn jemand draußen im Wald ist und jedes Mal etwas anderes sieht, der ist doch viel offener, als wenn er da drinnen ist. Das ist sozusagen die Schwierigkeit unserer Experten. Ich finde sie ja