Die Zecke auf Abwegen. Bernd Wieland
stundenlang im Internet gesurft, um auch ja alles richtig zu machen. Mit Johann Lafer persönlich hätte er telefoniert, um noch einen Tipp für die perfekte Bockwurst zu bekommen, hat er irgendwann in der Kaffeerunde stolz erzählt.
Meurer, die Rakete, hatte auch nur 14 Fälle abgegeben. Kein Wunder, wenn man von sieben Schlachtern Vergleichsangebote einholt und alle Betriebsprüfungsakten von geprüften Imbissbuden nach Wiegeprotokollen durchsucht. Die dicksten Bockwürste verkaufte sowieso meine Frau Britta in unserem Imbiss. Hätte ich ihm gleich sagen können.
Es gab nur noch eine Möglichkeit die Statistik zu retten: Aus dem Auto holte ich zwei Faltboxen und packte sie randvoll mit unbearbeiteten Steuererklärungen. Über Weihnachten würde ich sie zu Hause eingabegerecht vorbereiten und am 30.12. kurz vor Statistikschluss im Amt in den PC hacken. Noch gab ich mich nicht geschlagen.
4. Weihnachten bei Familie Schminke
Heiligabend, 07:14 Uhr. Ich war in Topform, hatte bereits elf Steuererklärungen bearbeitet. Die Faltboxen wurden trotzdem kaum leerer. Für jeden Steuerpflichtigen hatte ich mir ein kleines Weihnachtsgeschenk überlegt: Lehrer bekamen ihre Arbeitszimmer anerkannt, auch wenn sie mit Whirlpool ausgestattet waren, und einem Klempner gestattete ich den Roman Feuchtgebiete als Fachliteratur abzusetzen. Dazu gesellten sich großzügige Zahlendreher und imaginäre Pauschalen. Ein Rentner hatte der Steuererklärung eine Weihnachtskarte beigefügt und darauf vermerkt: „Sehr geehrtes Finanzamt! Tut mir leid, wenn ich nicht alles richtig eingetragen habe. Ich weiß leider nicht, wo was reinkommt.” – Ein klarer Fall von Hilflos im Sinne des § 33b Absatz 6 Einkommensteuergesetz. In Zeile 33 ein Kreuz und der Herr Büttner konnte sich zusätzlich zum Schwerbehinderten-Pauschbetrag auf einen Weihnachtsbonus von 3.700 Euro freuen.
Ganz uneigennützig waren meine Weihnachtsgeschenke allerdings nicht. Ich wollte vermeiden, dass es nach Weihnachten Einsprüche regnete, die unser Team völlig lahm legten.
Die Zwillinge waren auch schon seit 06:30 Uhr auf. Sie fegten über den Flur und waren jetzt schon völlig durch den Wind. Mit roten Wangen sangen sie „Leise rieselt der Schnee”. Draußen hatten wir 12 Grad mit leichtem Nieselregen – also typisches Heiligabend-Wetter.
Britta verbreitete Hektik. „Hartmut, ich sauge und wische jetzt noch die Wohnung und dann stellst du den Baum auf”, befahl sie, und schon hatte ich den Staubsauger zwischen meinen Füßen.
Um 12:00 Uhr klingelte es. Papa stand mit dem Vogel vor der Tür. Papa hatte mir noch gefehlt! Eigentlich war ich gerade so schön im Fluss.
Noch völlig außer Atem setzte er die schwere Wanne vor mir ab. „Hier guck mal, Hartmut!” Er zog das Handtuch von der Wanneund zeigte mir stolz seinen Gänsebraten. „Echt Öko! 90 Euro wollte der olle Flachsbart dafür haben – Wucher!”
Bei dem Anblick der frisch aufgetauten goldgelben Gans mit den dicken Keulen lief mir schon das Wasser im Mund zusammen. Seit unserer Hochzeit war es Tradition, dass Papa die Weihnachtsgans bei uns zubereitete – für Papa das größte Weihnachtsgeschenk. Mama wollte den tagelangen Gestank nicht in ihrer Wohnung haben.
Papa legte sich Einmalhandschuhe an und breitete auf der Anrichte chirurgisches Werkzeug aus. Spätestens wenn er seine grüne Schürze anlegte, strahlte er eine Fachkompetenz aus, dass man ihm die Durchführung einer spektakuläre Gehirntransplantation zutraute. Während Britta um ihn herumwischte, setzte er die letzte Spritze unter die Haut und dozierte: „Britta, wusstest du, dass der Ananassaft die molekulare Struktur vom Eiweiß im Muskel zerstört und das Fleisch dadurch besonders zart wird?” Noch hatte Papa wenig getrunken und brachte so einen komplizierten Satz fließend über die Lippen. Britta hatte im Moment keinen Sinn für die molekulare Zerstörung von Eiweißstrukturen und trieb Papa an: „Kalle, jetzt schick endlich den Vogel auf seine letzte Reise, sonst müssen wir Heiligabend ohne ihn feiern.”
Wieder bekam ich einen Einlauf: „Hartmut, jetzt reicht’s! Leg endlich die Steuererklärungen zur Seite. Du musst dringend den Baum aufstellen!”
Widerstrebend packte ich die noch nicht bearbeiteten Steuererklärungen in die Box zurück und trollte mich auf den Balkon, um den Tannenbaum ins Wohnzimmer zu schleppen – die Zwillinge „Alle Jahre wieder” singend hinterher.
Was hatte Britta sich denn da für einen Strunk andrehen lassen? Ein erbärmliches grünes Gerippe wurde von einem Plastiknetz notdürftig zusammengehalten. Braune Nadeln rieselten heraus, wenn man den Baum nur schief ansah. Das Schlimmste aber war der Fuß: krumm wie ein Regenschirm.
Auf dem Weg vom Balkon ins Wohnzimmer hinterließen das Gerippe und ich eine Spur brauner Nadeln und kleiner Käfer, die schnell hinter die Fußleiste huschten. Lucy schnitt mit einer Schere das Plastiknetz auf: „Papa, warum hat denn der Baum so wenig Nadeln?”
„Lucy, die Tannenbäume haben heute nicht mehr so viele Nadeln – liegt am Waldsterben.”
„Ist der Baum auch schon tot?”, fragte Luisa mich mit besorgtem Blick.
Mir war jetzt nicht danach, philosophische Kinderfragen zu beantworten. „Nein, der wird jetzt von euch ganz toll geschmückt und dann geht es ihm wieder gut”, lautete meine pädagogisch inkorrekte Antwort.
Ich versuchte, den Baum mit Gewalt in den Tannenbaumständer zu zwängen, aber sein Fuß war einfach zu krumm. Als er endlich in der Halterung steckte, schwebte der Baum in einem 60 Grad-Winkel.
Der Baum hatte sich noch nicht ganz entschieden, ob er stehen bleiben wollte, da hing bereits die erste Glaskugel, ein mundgeblasenes Einzelstück für 34 Euro.
„Lucy, warte noch!” Keine zehn Sekunden später – süßer die Glocken nie klingen! Die Scherben lagen sogar in der Yuccapalme.
Britta rief vom Flur aus: „Na, Harti, alles okay? Ich geh mal eben rüber zu LiDL.”
„Ja, lass dir Zeit”, flötete ich in Richtung Flur. Wenigstens war Britta aus der Schusslinie. Aber da kam Papa und latschte wie blind durch Nadeln und Scherben in Richtung Backofen. Er riss die Backofentür auf und schwärmte: „Mein Gott, wird die Haut heute wieder knusprig!”
Es half nichts: Wollte ich den Baum nicht in der Horizontalen schmücken, musste ich den Fuß der Tanne radikal kürzen. Im Keller fand ich den elektrischen Fuchsschwanz aus dem Nachlass von Onkel Lothar. Das Ding war mir nicht ganz geheuer. Noch waren alle Finger dran – bei meinem Talent wahrscheinlich eine Fragevon Minuten. Ich rief nach Papa, aber Papa klebte am Fernseher: Richterin Barbara Salesch. Ich schickte Luisa vor: „Luisa, geh doch mal zum Opa. Der Opa soll ganz schnell kommen.”
Nur widerwillig und mit ständigen Blicken zum Bildschirm ließ sich Papa von Luisa abführen.
„Beeil dich, Hartmut, ich muss mich noch um die Gans kümmern! Wie viel soll denn ab?”
„Zehn Zentimeter müssten reichen.”
Papa schmiss die Höllensäge an. Noch bevor ich „Halt” schreien konnte, hatte er bereits die Spitze um 20 Zentimeter gekürzt.
Luisa plärrte los und hielt mir heulend die kahle Spitze vor die Nase: „Wieder ankleben!”, schluchzte sie. Lucy stimmte solidarisch in ihr Geheule ein.
Papa hatte mit der Säge schon wieder Gas gegeben und malträtierte nun den Fuß des Baumes. Langsam kamen mir Bedenken. Vier Bier hatte Papa schon getrunken – vielleicht war es doch besser, die Aktion abzublasen.
„Papa!” Papa hörte nichts.
Die Sägespäne stoben nach allen Seiten, hingen in der Gardine, im Obstkorb und zwischen Brittas Dekoplunder, der in jeder Ecke herumstand.
„Aufhören, Papa!”, schrie ich.
„Bin gleich durch!”, schrie Papa zurück. Rums! Eine tiefe Schramme war im Parkett.
Papa versuchte sie unsinnigerweise wegzureiben und murmelte: „Ach, das kriegt man schon wieder weg.” Dann stürmte er Richtung Backofen: „Muss nur mal eben die Haut pflegen. Mein Gott, wird die Haut wieder … Scheiße!” Er hatte die Fettpfanne mit zu viel Schwung aus dem Backofen gezogen. Plötzlich