Die Zecke auf Abwegen. Bernd Wieland

Die Zecke auf Abwegen - Bernd Wieland


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„Bin wieder da!” Schon stand sie in der Tür. Auch Lucy undLuisa hatten mit ihren fünf Jahren die Lage bereits begriffen und heulten wie die Sirenen los. Britta zitterte, war bleich vor Zorn. „Raus!”, sagte sie leise.

      Wir mussten die Treppe nehmen, weil der Fahrstuhl mal wieder ausgefallen war. In jeder Etage hörte man kreischende Kinder und meckernde Frauen. Und immer wieder aus dem Radio „Oh du Fröhliche”. Aus Kochs Wohnung drang eine schrille Frauenstimme: „Wenn der Backofen nicht in einer Stunde wieder läuft … Weihnachten ohne mich!”

      Dann standen wir an der frischen Luft.

      „Ist Britta immer so schnell auf 180?” – Papa war wirklich so verpeilt, wie Mama es immer beklagte.

      Schweigend gingen wir eine Weile nebeneinander her. Der Regen war stärker geworden.

      „Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Tag?”

      „Wenn deine Mutter mich Heiligabend rausgeschmissen hat, bin ich immer zum ‚Lustigen Johannes‘ gegangen – zum Leberzirrhose-Stammtisch.”

      „Dann gehen wir da jetzt auch hin.”

      Papa schien allen bekannt zu sein. Der lustige Johannes brachte sofort für jeden ein Helles und einen Korn und klopfte Papa aufmunternd auf die Schulter: „Kalle, Heiligabend geht auch mal vorbei.”

      Dann musste ich mir eine Stunde lang Papas Finanzamtsgeschichten anhören: Von den Lochkarten in der Finanzkasse, von Regierungsdirekter Bölke, der um 07:30 Uhr jeden Bediensteten, der sich verspätet hatte, per Handschlag an der Eingangstür begrüßte. Immer wieder die gleiche Story: „Junge, einmal in der Woche sind wir mit ’nem Benzinkanister in die Garage zu unserem Dienstwagen gegangen. Die Anwärter mussten immer mit dem Mund den Sprit ansaugen und jeder bekam zwei Liter.” Papa hatte Tränen in den Augen vor Lachen.

      Plötzlich sah er auf die Uhr und fuhr nervös mit der Hand über seine sorgsam quer über die Glatze gekämmten Haarsträhnen:”Hartmut, wir müssen nach Hause. Die Gans ist noch im Ofen!”

      Wie durch ein Wunder hatte sich Britta beruhigt und war dabei, mit den Mädchen den Baum zu schmücken. Papa wollte schon mit Schuhen zum Backofen stürmen, doch Britta hielt ihn resolut zurück: „Kalle, Hartmut: erst Schuhe ausziehen!”

      „Die Gans, die Gans!”, jammerte Papa. Panisch zerrte er an seinen Schuhen, die Socken blieben stecken, aber egal. Er wetzte Richtung Küche, riss den Backofen auf und starrte auf den Gänsebraten – und dann lächelte er glücklich: „Mein Gott, ist die Haut dieses Jahr knusprig!”

      Schließlich kam Mama mit dem Christstollen und der Schwarzwälder Kirschtorte. Der Tölzer Knabenchor sang „Es ist ein Ros entsprungen” und die Zwillinge standen hinter der Gardine und warteten auf den Weihnachtsmann.

      Es klingelte. Endlich mal ein pünktlicher Weihnachtsmann! Erwartungsvoll öffnete ich die Haustür, die Mädchen in einem Sicherheitsabstand hinter mir. Kein Mann mit rotem Kittel und Rauschebart, sondern Herr Speer, der Vorsitzende der Eigentümerversammlung.

      „Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, Herr Schminke, aber es ist wirklich dringend: Wir müssen leider eine außerordentliche Eigentümerversammlung einberufen. Übermorgen um 19:00 Uhr in unserer Wohnung.”

      „Übermorgen?” Ungläubig starrte ich ihn an. „Übermorgen ist der zweite Weihnachtstag.”

      Herr Speer zuckte nur mit den Achseln. „Ich weiß. Der Termin ist etwas unglücklich, aber es ist wirklich dringend!”

      Schon war er einen Treppenabsatz tiefer bei Familie Koch.

      Wir hatten die Nachricht noch nicht verarbeitet, da klingelte es erneut. „Jetzt! Jetzt ist er da!”, rief Luisa aufgeregt und sprang im Flur umher.

      Frau Koch stand zitternd vor mir, war vollkommen aufgelöst: „Haben Sie schon gehört, wir sind pleite!”

      „Kommen Sie doch herein.” Britta schob Frau Koch in unseren Flur. Betroffen blickte ich sie an. Sie hatte geheult. Ihr schwarzer Kajal war an ihren Krähenfüßen heruntergelaufen.

      So lange war es auch noch nicht her gewesen, dass die Bank uns die Versteigerung der Eigentumswohnung angedroht hatte. Nur meine geniale Idee, einen Imbiss auf Brittas Namen zu eröffnen, hatte uns vor dem Ruin gerettet.

      „Eine Privatinsolvenz kann auch ein neuer Anfang sein”, versuchte ich Frau Koch zu trösten.

      Frau Koch sah mich entrüstet an: „Aber Herr Schminke, was denken Sie eigentlich von uns! Nicht wir sind pleite, sondern die Eigentümergemeinschaft! Wir alle sind pleite! Weiß ich von Herrn Higgins. Soll was ganz Schlimmes passiert sein.”

      Britta und ich schauten uns erschrocken an.

      „Was ist denn passiert?”, fragte Britta besorgt.

      „Wenn ich das wüsste! Aus dem Speer ist nichts rauszukriegen. Er will uns erst am zweiten Weihnachtstag genauer informieren.”

      Und endlich kam dann doch noch der Weihnachtsmann. Er brachte die beiden Dackel mit der Zwei-Kanal-Funkfernsteuerung, die wir ihm tags zuvor in seinem Lager neben dem Reifencenter vorbeigebracht hatten. Mit ruckartigen Bewegungen stapften die Hunde um den Tannenbaum und krächzten mechanisch: „Füttere mich, sonst beiß ich dich.”

      Papa knabberte selig das Gerippe des Gänsebratens ab und strahlte: „Mein Gott, ist die Haut dieses Jahr wieder knusprig.”

      5. Krisensitzung

      Wir feierten den zweiten Weihnachtstag. Speers Wohnung platzte fast aus allen Nähten. Sonst hatten wir immer den Konferenzsaal im Kreisverwaltungsamt für Eigentümerversammlungen angemietet. Aber heute war ja Feiertag. So hatten Speers ihre Wohnung zur Verfügung gestellt. Immer noch drängten sich die Eigentümer in die Wohnung. Auch die letzten Schnarchsäcke, die sich sonst nie blicken ließen, hatte Herr Speer aufgeschreckt. Wer nicht mehr ins Wohnzimmer passte, konnte durch ausgeteilte Babyphone das Geschehen im Wohnzimmer mitverfolgen.

      Wir saßen in einem Raum, der dazu diente, Bügelwäsche und ausrangierten Wohlstandsmüll aufzubewahren. Heute waren es die Eigentümer, die sich nirgendwo mehr unterbringen ließen. Auf einem klapprigen Kleiderschrank verhüllte eine karierte Wolldecke einen langen, unförmigen Gegenstand. Neugierig zog Britta die Decke ein Stück beiseite: rotblondes Haar kam zum Vorschein. Unglaublich! War es das, was ich vermutete? Ich weiß nicht, ob Britta wirklich so begriffsstutzig war oder was sie sonst getrieben hatte, jedenfalls zog sie noch einmal kräftig an der Decke.

      „Britta”, zischte ich, „lass das!” Doch es war schon zu spät. Die schwere Decke verlor an Halt und rutschte herunter. Alle starrten verdutzt auf die nackte Frau auf dem Schrank, die mit ihrem weit geöffnetem Mund und den dunklen Kulleraugen ziemlich belämmert aussah.

      Ein junger Mann, Typ Seebär, mit Bauch und Vollbart, fing dröhnend an zu lachen und prustete: „Wusst ich gar nicht, dass Speers hier zu dritt wohnen.”

      Frau Tunte-Grieshalm schüttelte tadelnd den Kopf und versuchte die Brüste der Schrank-Frau mit einem Oberhemd aus der Bügelwäsche zu bedecken.

      „Guck da nicht so hin, Hartmut!”, zischte Britta mir zu und versuchte die Decke wieder über die Gummipuppe zu ziehen. Endlich guckte nur noch ein großer Zeh hervor.

      Aus dem Schlafzimmer hörten wir wütende Stimmen: „Und in so eine Ruine haben wir unser ganzes Geld gesteckt!”

      „Man sollte ihn anzeigen – oder besser gleich lynchen!”

      Die Stimmung heizte sich jetzt auch in unserer Abstellkammer auf. Herr Dr. Keuscher, der zwischen mir und einer hölzernen Skulptur eines Deutschen Schäferhundes eingeklemmt war, jammerte: „Vor zwölf Jahren hat sich der Betonsockel geneigt! Wusste ich doch gleich, dass bei der Sanierung gepfuscht wurde. Kostet Hunderttausende, wenn man das vernünftig machen lässt!”

      Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Jeder suchte Streit. Der über die Weihnachtstage aufgestaute Ärger über die Verwandtschaft und dazu das Völlegefühl von dem fetten Gänsebraten


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