Die Zecke auf Abwegen. Bernd Wieland

Die Zecke auf Abwegen - Bernd Wieland


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Von meinem Platz aus sah ich niemanden.

      „Kuckuck natürlich”, raunte mir Frau Tunte-Grieshalm zu. Offenbar wusste sie mehr. Ihr süßliches Parfum, ein Lamöff übelster Sorte, nahm mir fast den Atem.

      Herr Speer bahnte sich jetzt einen Weg durch den Flur, vorbei an unserer Abstellkammer. Für einen Moment konnte ich sehen, wie er Herrn Kuckuck, den Hausverwalter, durch die Menge schob. Kuckuck wurde im Wohnzimmer vor eine Anrichte gestoßen, die als Pult für den Beirat diente.

      Dann begann Herr Speer mit seinen Ausführungen. Mit seinem Gewerkschaftler-Organ konnte er sich auch ohne Babyphone verständlich machen.

      „Wie ich Ihnen bereits bei unserer letzten Eigentümerversammlung ausführlich mitgeteilt habe, sind in den nächsten Wochen einige Reparaturarbeiten dringend erforderlich: Das Flachdach in Block B ist undicht und muss komplett saniert werden. Die Heizung wurde vom Schornsteinfeger wegen der schlechten Emissionswerte nicht mehr abgenommen. Außerdem steht der Heizöl­tank auf Reserve. „Na, und?”, wandte Herr Higgins mürrisch ein. „Wozu gibt‘s denn die Instandhaltungsrücklage? Für das, was ich da jeden Monat einzahle, hätte ich mir schon einen richtig dicken Mercedes kaufen können.”

      Zustimmendes Gemurmel und Gefluche über die Höhe der Rücklagebeiträge und über den Bezirksschornsteinfeger, diesen Pendanten.

      „Da kommen wir langsam zu unserem kleinen Problem, Herr Higgins”, fuhr Herr Speer fort: „Heiligabend habe ich Herrn Kuckuck gebeten, mir einen aktuellen Kontoauszug von unserem Festgeldkonto zu geben. Er hat sich zuerst geweigert. Aber Sie kennen mich ja …” Anerkennendes Gemurmel.

      Bewohner, die es wagten, irgendwelche Faxen zu machen, bekamen von Herrn Speer einen Hausbesuch, den sie so schnell nicht wieder vergessen sollten. „Herr Kuckuck, sagen Sie den Damen und Herren doch bitte selbst, was los ist”, beendete Herr Speer seinen Vortrag.

      Herr Kuckuck hatte die ganze Zeit zu Boden geblickt. Der kleine Mann mit Habichtsnase und hängenden Augenlidern schluckte und fing an zu stottern: „Das, das … habe ich alles nicht gewollt. Können Sie mir glauben.” Schweigen.

      Günther Balzak vom Beirat mischte sich ungeduldig ein: „Um es mal auf den Punkt zu bringen, das Geld ist weg. Futsch! Aus die Maus! Nix mehr da – haben jetzt alle verstanden?”

      Ein paar Sekunden Stille. Dann war die Hölle los.

      Frau Knarrsack keifte: „Und so was läuft noch frei rum!”

      Frau Hopfgartner, die gerade neu gebaut hatte und ihre jetzige Wohnung nächste Woche bei Immobilien-Scout einstellen wollte, schnappte ein paar Mal nach Luft, verdrehte unnatürlich die Augen und wurde in letzter Sekunde von dem Seebären aufgefangen.

      „Wir müssen sie auf den Boden legen und ihre Beine hochlegen”, forderte Seebär uns auf. Zu Britta gewandt sagte er mit einem Blick auf den Schrank: „Geben Sie mir mal die Decke da oben.”

      Britta zog erneut an der Decke.

      „Das geht so nicht!”, schimpfte Frau Grieshalm. Aber Seebär konnte auch anders: „Junge Frau”, fuhr er sie an, „das ist ein Notfall! Angekommen bei Ihnen?”

      Frau Hopfgartner kam wieder zu sich und murmelte: „Es geht schon wieder.”

      „Liegen bleiben”, befahl der Seebär. Frau Hopfgartner wagte nicht, ihm zu widersprechen.

      Aus dem Augenwinkel sah ich an meinem rechten Fuß einen Schatten: eine fette Kreuzspinne. Bestimmt hatte sie unter der Wolldecke Winterschlaf gehalten. Mir kam eine perfide Idee. Mit einem schnellen Griff fing ich die Spinne und setzte sie direkt vor Frau Hopfgartners Nase wieder aus. Frau Hopfgartner starrte die Spinne an. Ein gellender Schrei. So schnell konnten wir gar nicht gucken, wie Frau Hopfgartner wieder auf den Beinen war und sich an Britta festklammerte. Am ganzen Leib zitternd zeigte sie auf mich: „Ihr Mann will mich umbringen!”

      Die Spinne versuchte zu flüchten. Doch Herr Dr. Keuscher war schneller, schnappte sich den schweren Korb mit Bügelwäsche und ließ ihn auf die Spinne fallen. Drei Beine guckten noch hervor. Vorsichtig hob ich den Korb an. Die Spinne war zäh, sie hinkte weiter in Richtung Fußleiste. Frau Hopfgartner war kurz davor zu hyperventilieren.

      Im Wohnzimmer war Herr Kuckuck dabei, stotternd zu erklären: „Ich wollt halt auch mal jemanden kennenlernen. Und dann hab ich der Lucky-Farm die Provision überwiesen.”

      „Von unserem Konto!”, quakte eine Frauenstimme.

      „Ich wollt’ das Geld doch nur ausleihen”, versuchte Herr Kuckuck sich zu rechtfertigen.

      „Aber da war doch noch erheblich mehr Geld auf dem Konto”, forschte Herr Speer nach.

      „Ja, natürlich. Ich hab’ doch nur 25.000 Euro gebraucht.”

      „Wahnsinn!”, Britta schüttelte fassungslos den Kopf.

      „Die restlichen 50.000 Euro habe ich in einen Immobilien-Fond bei Payman-Brothers angelegt.”

      „Na, hoffentlich gut verzinst”, redete Frau Knarrsack dazwischen.

      „Auf welchem Stern leben Sie denn?”, erregte sich Herr Balzak „Noch nie was von Finanzkrise gehört? Das Geld ist futsch! Nix mehr da!” Wieder tobende Empörung.

      Frau Hopfgartner fing leise an zu schluchzen: „Eugen hat sich auch ein Depot bei Paymann-Brothers aufschwatzen lassen. Mein Erbteil von Tante Iris – alles weg!”

      Nachdem sich der erste Sturm gelegt hatte, wandte sich Frau Tolle an Herrn Kuckuck: „Wo ist denn Ihre Frau? Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.” Und flüsternd an Frau Haschemeier gewandt: „Thailänderin! Fast noch ein Kind.”

      Das war zu viel für Herrn Kuckuck. Sein hängendes Augenlid begann zu zucken, der kleine Mann verlor alle Hemmungen: „Das ist es ja gerade”, schluchzte er. „Ten-Pas-Pu hat alles von mir bekommen. Selbst den Skianzug von Nike, den sie im thailändischen Werbefernsehen gesehen hat – und sicher nie tragen wird. Ich bin nur ganz kurz in den Heizungskeller gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Als ich wieder in die Wohnung kam, war sie weg. Auf dem Spiegel im Schlafzimmer hat sie noch mit ihrem Lippenstift geschrieben: Dear Detlef, thanks for all!”

      Frau Haschemeier-Dieterich, die heute ein fliederfarbenes Gewand mit Fransen trug, reichte Herrn Kuckuck ein Taschentuch.

      „Haben Sie denn der Lucky-Farm den Schadensfall gemeldet?”, fragte Herr Hecke, Vertrauensmann der Gothaer-Versicherung.

      „Natürlich! Ich hab mich sofort beschwert”, versicherte Herr Kuckuck, „aber die Tante von der Lucky-Farm hat nur mit den Achseln gezuckt und gesagt, sie würden schließlich keinen Menschenhandel betreiben.”

      Die Lage verbesserte sich nicht gerade als Herr Speer dem Mob eröffnete, jeder Eigentümer müsste jetzt zunächst eine Sondereinlage von 3.000 Euro einzahlen.

      Frau Knarrsack schrie Kuckuck empört an: „Ich zeige Sie an! Wegen Betrugs und Menschenhandels!”

      Erst als Herr Mollenhauer, ein Diakon der katholischen Kirchengemeinde, sich zu Wort meldete, wurde es wieder ruhiger.

      „Herr Kuckuck, Sie haben mir doch nach der Christmette erzählt, dass Sie aus der NS-Zeit alte Säbel, Wappen und Orden sammeln.”

      Herr Kuckuck, der sonst keine zwei Sätze hintereinander fließend herausbekam, fing jetzt an zu sprudeln: „Neulich habe ich auf einem Trödlermarkt in Osnabrück einen traumhaften Reichssäbel von 1939 erstanden.”

      Diakon Mollenhauer unterbrach ihn: „Dann schlage ich vor, die Sammlung im Rahmen unserer Ausstellung ‚Verbrechen in der NS-Zeit‘ in St. Jakobus zunächst auszustellen und sie anschließend bei ebay zu versteigern.” 20 Prozent des Erlöses sollte St. Jakobus zukommen.

      „Das … das können Sie mit mir doch nicht machen!”, stammelte Herr Kuckuck. Erst als Herr Speer ihn mit der Einleitung eines Strafverfahrens wegen Veruntreuung gehörig eingeschüchtert hatte, gab er resigniert seine Zustimmung zum Verkauf. Alle klatschten.

      „Wer


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