Das Mädchen im Moor. Heinrich Thies
dich endlich kennenzulernen und mehr über dich zu erfahren.«
Sören, der wieder zu vergessen haben schien, dass er gerade noch zum Klo musste, nickte. »Ich würde auch gern noch mehr von dir wissen.«
»Ich lasse euch jetzt mal allein«, teilte Sabine mit. »Ich muss mich um das Abendessen kümmern.«
Dann setzten sich die beiden Männer wieder ins Wohnzimmer, und Mahnke fragte Sören nach der Schule – nach seinen Lieblingsfächern, seinen Schwierigkeiten, seinen Lehrern, seinen Zukunftsplänen. Von der Schule wechselte das Gespräch zu Sörens Freizeitaktivitäten, und Sören erzählte, dass er sich nicht nur für Fußball interessiere, sondern auch viel lese und für die Schülerzeitung schreibe. Er vergaß ganz, dass er gerade noch einen starken Drang verspürt hatte, dem Druck seiner Blase nachzugeben.
Schließlich brachte er auch seinen Vater dazu, zu erzählen, wie der die vergangenen Jahre verbracht hatte. Anfangs sei es die Hölle gewesen, sein Leben auf einen Bereich von acht Quadratmetern zu begrenzen und mit Schwerverbrechern und argwöhnischen Justizbediensteten Umgang zu pflegen, sagte Mahnke. »Ich kam mir vor wie lebendig begraben.« Doch dann habe er die Haftsituation irgendwann akzeptiert und beschlossen, das Beste daraus zu machen. »Ich habe immer daran gedacht, dass ich das durchstehen muss, damit ich irgendwann noch mal die Chance habe, dich kennenzulernen und dir zu beweisen, dass ich unschuldig bin.« Zur Bekräftigung strich er Sören über die Hand. »Und Sabine hat mir geholfen. Dass es jemanden gab, der an mich glaubte, hat mir die Kraft zum Überleben gegeben.« Nach vier Jahren habe er schließlich die Anstaltsbibliothek übernommen, sagt er. »Da war ich endlich wieder in meinem Element, konnte lesen und über die Fernleihe sogar Bücher bestellen, die mich interessiert haben.«
Als Sabine anfing, den Tisch zu decken, fiel Sören auf, dass es bereits auf halb acht zuging. Um neun Uhr fuhr sein Zug. Als er seinen Vater darauf ansprach, verdüsterte sich dessen Gesicht. »Kaum haben wir uns getroffen, müssen wir uns schon wieder trennen.«
»Ja, wirklich schade. Das war echt viel zu kurz.«
Jetzt schaltete sich Sabine ein. »Bleib doch einfach hier. Das ist überhaupt kein Problem. Das Haus ist groß genug, und ein Gästezimmer ist auch noch frei.«
»Das wäre natürlich fantastisch«, schloss sich ihr Bruder an. »Dann könnten wir uns morgen weiter unterhalten.«
Sören hob bereitwillig die Arme. »Von mir aus. Ich müsste natürlich zu Hause Bescheid sagen.«
Als er sein Handy hervorzog, bot Sabine ihm an, das Telefon in ihrem Arbeitszimmer zu benutzen. »Ist billiger.«
Sibylle Häcking war alles andere als begeistert, als Sören ihr mitteilte, dass er erst am nächsten Tag nach Hause zu kommen beabsichtige. »Genauso hab ich mir das vorgestellt«, klagte sie. »Die erzählen dir das Blaue vom Himmel und wickeln dich ein, und eh du dich versiehst, steckst du da mittendrin.«
»Ich glaube, ich habe gar keine Wahl«, entgegnete Sören. »Ich stecke da sowieso mit drin. Es geht schließlich um meinen Vater.«
Seine Mutter seufzte. »Ich hab’s geahnt »Kaum ist der wieder frei, macht der mir mein Leben kaputt.«
Sören blieb. Kaum hatte er das Telefonat mit seiner Mutter beendet, traf Johanna ein. Sie trug ausgewaschene Jeans, eine schlichte dunkelgraue Bluse und eine auffällige Kette aus exotischen grünen Perlen. Sören fiel auf, dass sie Sabine fest in die Arme schloss und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Sowie sie sich gesetzt hatte, erzählte sie von ihrem Spaziergang zum Grundlosen See, schwärmte von der Moorlandschaft im warmen Licht der Septembersonne und berichtete von ihrer Begegnung mit Heiko Hansen. »Kommt mir irgendwie seltsam vor, der Typ«, bilanzierte sie.
Mahnke nickte. »Der hatte auch früher schon Probleme. In Deutsch war er eine Katastrophe, dabei war ich mir eigentlich immer sicher, dass er ziemlich intelligent ist. Heiko war nicht besonders beliebt in der Klasse. Außenseiter. Eher schweigsam, fast verklemmt, aber wenn ihn mal was sehr geärgert hat, konnte es auch vorkommen, dass er ausgerastet ist. Das war schon etwas beängstigend. Einmal hat er auf dem Schulhof so auf einen Mitschüler eingeschlagen, dass wir die Polizei holen mussten.« Mahnke atmete tief durch. »Ich schätze, dass er unter seinem Vater gelitten hat. Der war ziemlich streng und autoritär und hat ihn wohl auch öfter geschlagen.«
»Ein guter Freund unseres Hauptkommissars«, fiel Sabine ein. »Der alte Hansen geht mit Hartmann zur Jagd.«
»Interessant«, kommentierte Johanna. »Der grüne Kommissar und der bodenständige Bauer – überhaupt interessante Verbindungen hier in Walsrode. Von Ihren Schülern sind ja erstaunlich viele hier hängen geblieben, Herr Mahnke, beziehungsweise zurückgekehrt an die Stätten ihrer Kindheit. Ein Großbauer, ein Arzt, ein Anwalt, ein Hotelier, eine Lehrerin, eine Sparkassenangestellte … Wirklich bestens integriert alle, und irgendwie scheinen die meisten auch untereinander Kontakt zu haben. Jedenfalls reagieren sie sehr abweisend, wenn man auf den Mord an Annika zu sprechen kommt. Kommt mir manchmal vor wie eine Mauer des Schweigens, um es hochtrabend auszudrücken.«
Sabine rückte nachdenklich ihre Brille zurecht, ihr Bruder starrte aus dem Fenster, als erwarte er jemanden.
»Mit einer Ausnahme«, fuhr die Journalistin fort. »Sven Weber, dieser Rechtsanwalt, der ist ungeheuer nett und offen. Aber vielleicht liegt das daran, dass wir uns schon von früheren Fällen her kennen. Auf jeden Fall hat er mir seine Hilfe angeboten.«
»Toll, Johanna.« Sabine war begeistert. »Das könnte wichtig sein. Der hat gute Beziehungen.«
»Und sein Vater war Polizist«, hakte Mathias ein. »Der hat hier damals sogar die Polizeidienststelle in Walsrode geleitet, müsste seit ein paar Jahren pensioniert sein.«
»Ich glaube, der hat erst kürzlich seinen Abschied genommen«, sagte Sabine. »Ich habe es vor einigen Monaten in der Zeitung gelesen, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Vielleicht kriegen wir dann ja über seinen Sohn auch Einblick in die Polizeiarbeit von damals«, fügte Johanna an.
Mahnke strich sich skeptisch über die Stirn. »Sollte mich wundern. Der alte Weber hat Sven bestimmt nicht erzählt, was er so im Dienst getrieben hat.«
Jetzt fiel Sabine ein, dass in der Küche noch eine große Schüssel Rote Grütze auf ihre Gäste wartete. Kaum hatte sie das Wohnzimmer verlassen, klingelte das Telefon. Sie stürmte in ihr Arbeitszimmer und nahm ab. »Ja bitte?«
»Spreche ich mit Sabine Mahnke?«, fragte ein Mann in harschem Ton.
»Am Apparat, aber wer sind Sie denn?«
»Das tut nichts zur Sache. Ich habe gehört, dass ihr Bruder wieder aus’m Knast ist. Sie sollen ihn bei sich aufgenommen haben, Ihr liebes Bruderherz. Dass der sich nicht schämt, hier wieder aufzukreuzen! Richten Sie dem Schwein aus, dass er sich auf was gefasst machen kann, wenn wir ihn erwischen. Und wir werden ihn erwischen. So leicht kommt der nicht davon.«
Sabine war viel zu schockiert, um etwas zu erwidern. Als sie zu einer Entgegnung ansetzen wollte, hatte der Anrufer schon aufgelegt.
Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, konnten alle an ihrem blassen Gesicht ablesen, wie der Anruf sie erschreckt hatte. »Eine anonyme Drohung.« Sie musste schlucken, es fiel ihr nicht leicht, die Einzelheiten der Telefonattacke wiederzugeben.
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