Das Mädchen im Moor. Heinrich Thies
gelesen. Sabine hatte ihr außerdem eine Aufstellung über Personen angefertigt, die mit dem Fall in Verbindung gestanden hatten. Das waren nicht wenige. Denn die Schülerin Annika hatte einen großen Bekanntenkreis, ebenso Mathias Mahnke, der in Walsrode aufgewachsen war und dort zuletzt mehrere Jahre unterrichtet hatte. Auf der Liste standen auch Männer, die aus Sabines Sicht theoretisch als Täter in Frage kamen – vor allem Mitschüler Annikas. Dazu zählte Heiko Hansen, ein Bauernsohn, der immer noch in Fulde leben sollte, mittlerweile offenbar den Hof seiner Eltern übernommen hatte. Der Hof lag unmittelbar am Weg zum Grundlosen See. Johanna nahm sich vor, einen Blick darauf zu werfen.
Schon von weitem hörte sie das wütende Brüllen der Motorsäge. Als sie näher kam, war sie sicher, dass es der Hof der Hansens war, auf dem gesägt wurde. Ein Mann in schmutzig grünem Overall war damit beschäftigt, eine Reihe von hoch aufgeschossenen Fichten umzulegen. Krachend schlug gerade einer der Nadelbäume zu Boden, sodass der Mann die Säge abstellte und eine kurze Verschnaufpause einlegte. Johanna vermutete, dass es sich um Heiko Hansen handelte. Sie beschloss, die Gunst des Zufalls zu nutzen.
Sie winkte dem Mann mit der Motorsäge zu, stieg vom Rad. »Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, wie ich zum Grundlosen See komme?«
»Kein Problem, immer geradeaus, bis der Asphaltweg in Kopfsteinpflaster übergeht und in den Wald führt. Dann geht es irgendwann rechts ab. Müsste aber auch irgendwo ’n Schild stehen.«
»Vielen Dank.«
»Nich’ dafür.«
Sie sah, dass dem Mann Schweißperlen auf der Stirn standen, das mittelblonde Haar war klitschnass.
»Na, wird einem mächtig warm beim Sägen, was?«
»Kann man wohl sagen.« Lächelnd wischte sich der Mann mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn. In der anderen Hand hielt er weiter seine »Stihl«. »Das is’ so beim Holz, da wird einem gleich zweimal warm«, fuhr er in leicht schleppendem Ton fort. »Das erste Mal beim Sägen und das zweite Mal, wenn man vorm Ofen sitzt.«
Johanna war sicher, dass sie den Spruch schon mal gehört hatte. Trotzdem lachte sie, als sei sie gerade mit einem Geistesblitz beschenkt worden. »Das ist gut. Ist natürlich auch ideal, wenn die Bäume direkt vor der Haustür wachsen und wenn man noch einen Ofen hat, mit dem man Holz verbrennen kann.«
»Das ist wohl wahr. Bei den Öl- und Gaspreisen! Na ja, zum Glück läuft unsere ganze Heizung mit Holz. Was Besseres gibt’s gar nicht.«
»Ich habe auch einen Kaminofen in meinem Häuschen. Aber ich bin einfach zu faul, das Holz ins Haus zu schleppen und die Asche rauszubringen. Da stelle ich dann schon lieber die Gasheizung an.«
»Wo wohnen Sie denn?«
»Ach, in Benzen, bisschen außerhalb hinter dem großen Spargelhof am Waldrand.«
»Ah ja, die Ecke. Kenn ich.«
»Und Sie? Sie sind hier wahrscheinlich auf dem Hof geboren.«
Heiko Hansen legte die Säge auf einem Baumstumpf ab und wischte sich einen Marienkäfer vom Jackenärmel.
»Sie haben’s erraten. Das ist so bei uns Bauern. Wir bleiben da hängen, wo wir hingeboren werden.« Er räusperte sich kurz und streckte ihr seine rechte Hand hin. »Hansen, Heiko Hansen.«
»Johanna von Seewald.«
Als sie in Hamburg und Bremen gelebt hatte, wäre es ihr nicht im Traum eingefallen, sich mit dem Adelsprädikat vorzustellen, aber in Walsrode war es anders. Sie spürte, dass die Leute hier ihr mit einem »von« im Namen größeren Respekt entgegenbrachten.
Der Händedruck hatte nichts holzfällermäßig Hartes, sondern war eher weich. Die Hand fühlte sich warm und feucht an. Johanna sah, dass Hansen am Handrücken blutete. »Haben Sie sich verletzt?«
»Ach was, kein Ding. Bloß ’n Kratzer. So was kommt vor.«
»Müsste man nicht eigentlich Schutzhandschuhe tragen?«
Heiko nickte anerkennend. »Oh, Sie kennen sich aus. Ja, normalerweise müsste man Schutzhandschuhe tragen und so ’n komischen Helm auch, aber das ist mir alles zu unbequem.«
»Kann ich verstehen, aber passen se bloß auf. Mit so ’ner Motorsäge ist nicht zu spaßen.«
»Da haben Sie wohl recht.«
Johanna spürte, dass sich das Gespräch totzulaufen begann. Sie setzte einen Fuß aufs Fahrradpedal und deutete an, dass sie ihre Fahrt fortsetzen wolle.
»Na, dann will ich Sie mal nicht mehr länger von der Arbeit abhalten.«
»Ach, ’ne kleine Pause muss schon drin sein. In einem fort geht das hier sowieso nicht.« Damit griff er auch schon wieder nach seiner Säge. »Na, dann viel Spaß am Grundlosen See. Und verlaufen Sie sich nicht. Das Moor ist tückisch. Eh man sich versieht, ist man eingesunken.«
»Sprechen Sie aus Erfahrung?«
»Na zum Glück nicht. Aber Sie kennen doch sicher die Geschichte vom Knaben im Moor.,O schaurig ist’s übers Moor zu gehen, wenn es wimmelt vom Heiderausche …«
Johanna war überrascht, dass dieser Jungbauer plötzlich mit der Rezitation der berühmten Ballade begann. Das ermutigte sie, doch noch den Fall anzusprechen, der sie eigentlich zum Grundlosen See führte. »Hier soll es ja vor einigen Jahren wirklich mal schaurig im Moor zugegangen sein«, begann sie. »Ich habe gehört, dass hier ein Mädchen umgebracht worden ist.«
Die Miene ihres Gegenübers verfinsterte sich. »Ja, das war wohl so. Aber das ist lange her.«
Johanna spürte, dass Hansen nicht gern über die Sache sprach. Doch gerade dies veranlasste sie, weiter nachzusetzen, wo der Zufall ihr schon einen Beteiligten zugespielt hatte. »Muss ja furchtbar gewesen sein. War sicher wahnsinnig was los hier in der Gegend, ich meine, Polizei und Presse und so.«
»Nicht zu knapp. Aber, wie gesagt, ist lange her, und außerdem ist es auch nicht das erste Mal gewesen, dass sie hier ’ne Leiche gefunden haben. Schon Anfang der Siebziger haben Spaziergänger hier ’ne Männerleiche gefunden.«
»Wirklich? Das ist ja interessant.«
»Ja, wahrscheinlich denken die Leute, der See ist wirklich so grundlos, wie er heißt. Aber das ist ein Irrtum.«
»Wie war das denn damals mit der Männerleiche?«
»Sie wollen ’s ja wirklich genau wissen. Aber ich weiß natürlich auch nur vom Erzählen davon. Also: Soviel ich gehört habe, stammte der Tote aus Hünzingen oder so, war von seinem eigenen Sohn mit einem Verlängerungskabel erwürgt worden, und der hat ihn dann zusammen mit seinem Bruder zum Grundlosen See kutschiert.« Heiko schüttelte den Kopf. »Sie haben ihn auf ihrem Motorroller transportiert, den toten Papa praktisch in die Mitte genommen! Das muss man sich mal bildlich vorstellen: ein toter Mann auf dem Rücksitz und dahinter der Sohn, der ihn hält und wahrscheinlich auch vorher umgebracht hat.«
»Unglaublich! Und dann haben sie ihren Vater in den Grundlosen See geworfen?«
»Genau. Sie haben natürlich gedacht, dass er da versinkt, aber da haben sie sich eben geschnitten.« Hansen schüttelte wieder lächelnd den Kopf. »Soll nicht besonders schade um den Kerl gewesen sein, hat gesoffen wie ’n Loch und seine Frau angeblich dauernd vertrimmt. Deswegen soll die den Mord auch gedeckt haben. Aber, wie gesagt, das hab ich alles auch nur so gehört und kann mich natürlich nicht dafür verbürgen.«
»Verstehe, und diese Schülerin damals vor 17 Jahren?«
Johanna bemerkte, dass sich Hansens Gesicht verfinsterte. »Tut mir leid, darüber weiß ich genauso wenig, außerdem würde ich jetzt gern weitermachen.«
Das war für die Journalistin ein unmissverständliches Zeichen, dass sie mit dem Thema nicht weiterkam. Sie verabschiedete sich, und noch bevor sie aufs Rad gestiegen war, hatte ihr Gesprächspartner seine Säge wieder mit einem Ruck angeworfen und sich der nächsten Fichte zugewandt.
Noch