Das Mädchen im Moor. Heinrich Thies

Das Mädchen im Moor - Heinrich Thies


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ab, hau sofort ab.«

      Der Wortwechsel bleibt den Umstehenden nicht verborgen. Mahnke fühlt sich beobachtet, von argwöhnischen, feindseligen Blicken durchbohrt. Er stiehlt sich davon. Immer schneller werden seine Schritte. Am liebsten würde er laufen, rennen. Nur weg, nur weit, weit weg.

      Sören wundert sich, dass er den Platzwart nach der Halbzeitpause nicht mehr sieht. Seine Mutter wirkt weiterhin verstört, fast aufgelöst. Entgegen ihrer Vorsätze zündet sie sich noch auf dem Sportplatz eine Zigarette an und saugt den Rauch mit tiefen Zügen und zitternden Händen ein. Dabei starrt sie mit einem so leeren Blick aufs Spielfeld, dass sie gar nicht mitbekommt, dass es am Ende 4:2 für die Sportfreunde Silbersee steht und ihr Sohn ein umjubeltes Tor geschossen hat.

      »Was war denn los?«, fragte er, als er am frühen Abend nach Hause kam und sich noch schnell eine Tiefkühlpizza in den Backoffen schieben wollte.

      »Warum? Was …, was soll denn los gewesen sein?«

      »Also, Mama, echt, du hast ausgesehen, als hätte dir einer dein Todesurteil verkündet.«

      »Wie bitte? Was soll denn das? Ich weiß gar nicht, was du …«

      »Also, wirklich, wenn du denkst, du kannst mich für blöd verkaufen, dann …« Er bemerkte, wie sie hektisch den Kopf bewegte, wie ihre Augen flackerten. Wie aus einer plötzlichen Eingebung heraus fragte er: »Hat das vielleicht mit dem neuen Platzwart zu tun?«

      Es gelang ihr nicht mehr, ihre Bestürzung zu überspielen. Sie knetete nervös die Hände, ihre Augen flackerten, sie rang nach Luft und passenden Worten. »Also, ich, ich …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das geht jetzt nicht, wir können später darüber reden, später – wenn Tobi im Bett ist. Dann, äh, dann können wir darüber reden. Ich komm zu dir ins Zimmer. Ja? So, äh, gegen neun?«

      »Okay.«

      Wie geplant machte sich Sören über seine Pizza her. Doch mit seinen Gedanken war er bei der rätselhaften Begebenheit auf dem Fußballplatz. Er versuchte sich abzulenken, indem er sich auf die Geschichtsklausur vorbereitete. Aber das war sinnlos. So angestrengt er auch die Quellentexte zum Nationalsozialismus las, er begriff gar nicht, worum es ging. Schließlich öffnete sich die Tür, und seine Mutter befreite ihn von der mühsamen Lektüre.

      Eine Sorgenfalte grub sich in ihre Stirn. Senkrecht und tief. Alles an ihr verriet ein verzweifeltes Bemühen, die Fassung zu bewahren. Sie ließ sich auf einem Sessel nieder und faltete die Hände, als wollte sie beten, dabei blickte sie Sören bekümmert an. »Ich muss dir was erzählen, Sören«, begann sie. »Es fällt mir nicht leicht, wirklich nicht, aber es hat einfach keinen Sinn, länger einen Bogen darum zu machen. Das wird nicht einfach für dich sein, mein Junge. Versprich mir also, dass du mich nicht verdammst, wenn …«

      Dann musste sie schlucken und ihre Stimme erstarb in heftigem Schluchzen. Wenig später erfuhr Sören, dass er mit einer Lüge aufgewachsen war. Dass sein Vater nicht gestorben war, sondern im Gefängnis gesessen hatte. Wegen Mordes an einer Schülerin.

       Montag, 10. September 2007, Bad Fallingbostel

      Uwe Hartmann war ein geduldiger Mensch. Auf seiner Dienststelle, der Polizeiinspektion Soltau, galt er als einer, den so leicht nichts aus der Ruhe bringt – weder die manchmal etwas gleichgültigen bis schlampigen Kollegen, noch die oft sehr aufgeregten Beteiligten der üblichen Kriminal- oder Verkehrsunfälle. Auch im Kreise seiner Familie bewahrte der Kriminalhauptkommissar normalerweise die Ruhe, auch wenn seine Frau Gudrun und seine Tochter Sarah hektisch durchs Haus rannten und wüste Flüche, wenn nicht gar Beschimpfungen ausstießen. Normalerweise.

      Dieser Zustand aber konnte leicht aus dem Gleichgewicht geraten, wenn Hartmann einmal wieder im Begriff war, seiner großen Leidenschaft nachzugehen: der Jagd. Dann nämlich geschah es nicht selten, dass er bei den häuslichen Vorbereitungen von seiner Frau belächelt und verhöhnt und von seiner Tochter als »Mörder« beschimpft wurde – und zwar so hartnäckig, dass er irgendwann die Fassung verlor.

      So war es auch an diesem Montag, einem milden Septemberabend kurz vor sechs Uhr. »Mein Gott, kannst du nicht einmal deine blöden Kommentare für dich behalten«, herrschte er Sarah an, als sie ihn in ihrer bissigen Art gefragt hatte, ob wieder die Mordlust in ihm erwacht sei.

      »Ich weiß, dass du mich dämlich findest«, erwiderte Sarah. »Aber ich finde dich abartig, wie du da in dem komischen grünen Pullover und der Bundeswehrhose rumläufst und glänzende Augen kriegst, wenn du deine Knarre streichelst wie so ’n Berufskiller. Abartig! Echt!«

      »Du hast sie doch nicht mehr alle.«

      »Bitte?«

      »Ich hab gesagt: ›Du hast sie nicht mehr alle‹ – und dazu steh ich, ich hab einfach keine Lust mehr, mich von einer durchgeknallten Zicke wie dir beleidigen zu lassen.«

      »Häh? Durchgeknallte Zicke? So gehst du also mit Kritik um, du verkappter Sadist.«

      »Nicht zu glauben! Weißt du, was du bist? Eine Hexe, eine giftige kleine Hexe.«

      »Was ist denn hier los?« Zu allem Überfluss kam jetzt auch noch Gudrun Hartmann dazu. Die Grundschullehrerin hatte gerade Diktate korrigiert.

      »Papa findet, dass ich eine Hexe bin«, sagte Sarah. »Eine giftige Hexe sogar.«

      »Bitte?« Gudrun Hartmann sah ihren Mann an, als habe er die gemeinsame Tochter brutal geschlagen.

      »Ich weiß, ich weiß, ich bin wieder der Bösewicht«, klagte Hartmann beleidigt. »Sarah darf mich als Mörder beschimpfen, und wenn ich mich wehre, dann …«

      »Also bitte, komm mal runter, entspann dich, Uwe.« »Kommt ihr mal runter. Ich bin es langsam leid, mich hier maßregeln zu lassen, nur weil ich alle paar Wochen mal zur Jagd geh. Du weißt, dass ich das als aktiven Naturschutz …«

      »Zur Jagd?« Gudrun Hartmann tat, als verstehe sie die Welt nicht mehr. »Davon weiß ich ja noch gar nichts. Heute Abend ist doch Elternabend, wir hatten doch schon vor zwei Wochen besprochen, dass du da hingehst. Du weißt doch, dass ich nicht kann, weil ich selbst Elternabend habe. Hast du das etwa vergessen?«

      »Elternabend? Ich weiß von keinem Elternabend.«

      »Typisch«, fauchte Sarah dazwischen. »Er weiß wieder mal von nichts. Wenn er an seine Ballerei denkt, ist alles andere ausgelöscht.«

      »Halt die …«

      »Sag mal«, fuhr Gudrun dazwischen. »Was ist das denn für ein Ton? Ich glaube wirklich, du bist etwas überreizt. Da sollte man sowieso besser nicht mit ‘ner Waffe losziehen.«

      »Ein Elternabend bietet aber wahrscheinlich auch nicht die passende Entspannung«, entgegnete Hartmann.

      Doch im nächsten Moment hielt ihm seine Frau schon den Wandkalender vor die Augen, wo für den 10. September tatsächlich nicht »Jagd«, sondern »Elternabend« eingetragen war – und zwar mit dem Zusatz »Uwe«.

      Uwe aber war bereits in seine Jägermontur mit dem olivfarbenen Pullover und der reißfesten Hose geschlüpft und zu keinen Zugeständnissen bereit. »Dann schwänzen wir den Elternabend heute eben mal«, schlug er schon leicht schuldbewusst vor. »Da wird sowieso immer nur dumm rumgelabert.«

      »So einfach kann man sich’s natürlich auch machen«, erwiderte Gudrun, und Sarah höhnte: »Ich glaube, seine Mordlust ist einfach schon zu stark, das kann man den anderen Eltern vielleicht wirklich nicht zumuten.«

      Uwe Hartmann wollte seine Tochter zuerst noch zurechtweisen, entschloss sich dann aber, mit einem gegrummelten »Ihr könnt mich alle mal« den beiden Frauen den Rücken zuzukehren.

      Wenige Minuten später stiefelte er auch schon mit »Amigo« zu seinem Geländewagen. Der zum Stöberhund ausgebildete Dackel sah mit seinen Schlappohren und Triefaugen genauso bedröppelt aus wie sein Herrchen.

      Uwe Hartmann hatte einen Monat zuvor seinen 54. Geburtstag gefeiert, war also nicht mehr der Jüngste.


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