Das Mädchen im Moor. Heinrich Thies

Das Mädchen im Moor - Heinrich Thies


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hatte sich das Backsteinhaus am Rande von Benzen bei Walsrode vor sechs Jahren gemeinsam mit ihrem Freund gekauft. Jens stammte aus der Gegend, er hatte in einem Chemieunternehmen im Nachbarort Bomlitz als Diplomkaufmann gearbeitet. Dann aber war die Beziehung in die Brüche gegangen, Jens wechselte zu einem Betrieb nach Hannover und sie war hier hängen geblieben. Sie konnte sich einfach nicht von dem »Hexenhaus« mit den knarrenden Holzdielen trennen, liebte es, von Frühjahr bis in den Spätsommer hinein, draußen im Garten am Waldrand zu sitzen.

      Aber sehr praktisch war es nicht. Ständig war irgendetwas kaputt. Mal regnete es durchs Dach, mal zog es durch die Fenster. Und an den langen Herbst- und Winterabenden wurde es ihr bisweilen auch unheimlich in dem alten Gemäuer. Wenn sie dann auch noch nachts durch das Knistern und Knacken auf dem Dachboden aus dem Schlaf gerissen wurde, war sie oft so verängstigt, dass sie bis zum Morgen keinen Schlaf fand. Besonders schlimm war es, wenn die Marder unter dem Dach herumtobten. Wie Kobolde hörten die sich an, wie böse Zwerge.

      Das Telefon klingelte. In der Hoffnung, durch den Anruf wieder in die Realität zurückgeholt zu werden, nahm sie ab.

      »Seewald.«

      »Hallo, Johanna, mein Schatz.«

      »Hallo, Mama.«

      »Ich hoffe, es geht dir gut in deiner Waldeinsamkeit. Alle schwärmen von deinen tollen Artikeln. Wahrscheinlich bist du jetzt auch gerade wieder beim Schreiben und ich störe.«

      »Nein, ich …«

      »Ach, da bin ich ja beruhigt. Ich bin nämlich vollauf mit meiner Ausstellung in Worpswede beschäftigt, weißt du. Die Vernissage rückt immer näher, und es sieht wirklich so aus, dass die Bude rappelvoll werden wird. Stell dir vor, Schatz, sogar aus den USA haben sich einige Sammler und Galeristen angekündigt. Ich kann kaum mehr schlafen vor Aufregung. Du hast dir doch hoffentlich den Termin rot im Kalender angestrichen?«

      »Klar, Mama, das war der, der …«

      »Du Schlingel, du hast es vergessen, gib es zu. Also zum Mitschreiben: Es ist der 22. September, ein Sonnabend. Okay?«

      »Ja klar, steht natürlich längst bei mir im Kalender.«

      »Sag mal, hast du eigentlich deine Kollegin vom ›Forum‹ informiert? Wird sie kommen?«

      »Ich weiß es nicht, Mama. Ich habe ihr eine Mail geschickt.«

      »Eine Mail? Denkst du, das reicht? Ihr Journalisten kriegt doch wahrscheinlich Tausende von Mails. Wäre es nicht besser, sie anzurufen?«

      »Das, äh, fände ich, ehrlich gesagt, ziemlich peinlich.«

      »Peinlich? Wieso? Bin ich dir etwa peinlich?«

      »Mama, bitte.«

      »Gut, gut, ich will nicht weiter in dich dringen. Die Hauptsache ist ja auch, dass du da bist. Mit deinem Bruder rechne ich schon nicht mehr. Der sitzt mit seiner Familie in München und schafft es gerade noch, mir zu Weihnachten eine billige Karte zu schicken. Aber glücklicherweise kenne ich den Grund, ich weiß, dass seine Frau ihn gegen mich aufhetzt.«

      »Mama, bitte.«

      »Ja, du hast vollkommen recht. Jeder muss sein eigenes Leben leben. Ich jedenfalls kann zurzeit nicht klagen.«

      »Das ist schön für dich, Mama.«

      »Ja wirklich, seitdem ich mit Florian zusammen bin, fühle ich mich wie auf Wolke sieben. Du musst ihn unbedingt kennenlernen.«

      »Mal sehen.«

      »Mal sehen? Na, sag mal! Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass wir daran denken zu heiraten? Da ist es doch wohl eine Selbstverständlichkeit, dass du ihn vorher kennengelernt hast. Aber glaub mir: Der ist wirklich total süß.« Sie kicherte. »Der wird dir auch gefallen, glaub mir. Und obendrein ein genialer Maler. Die Kunstwelt singt Hymnen auf ihn …«

      So ging es noch eine ganze Weile. Johanna war erschöpft und wütend, als ihre Mutter endlich aufgelegt hatte. Sie glaubte ihr kein Wort. Seit Jahren schon kündigte sie an, dass sie unmittelbar vor dem Weltruhm stehe, bedrängte Galerien und Kunsthäuser, ihre Bilder auszustellen, hielt sich junge Liebhaber aus der Künstlerszene, die sich in Wirklichkeit nur über sie lustig machten und ihr Geld verschlangen. Schon kurze Zeit nach dem Tod ihres Mannes hatte sie sich in den Trubel des Kunstbetriebs gestürzt – bemüht, ihren Jugendtraum wahr zu machen. Doch nur Freunde und Verwandte kauften ihre Werke, die Experten rümpften die Nase über sie oder verhöhnten sie hinter ihrem Rücken.

      Und bei aller Großspurigkeit schien sie diese Verachtung, diese Geringschätzung zu spüren, in seltenen Momenten brach ihre Verzweiflung durch, und dann konnte sie bitterlich weinen. Johanna hasste diese Momente fast noch mehr als die egozentrische Selbstüberschätzung ihrer Mutter. Wahrscheinlich würde sich auch diese Ausstellung wieder als große Luftnummer herausstellen.

      Johanna war nicht entgangen, dass ihre Mutter gelallt hatte. Sie hatte sich vermutlich wieder Mut angetrunken, ihre Selbstzweifel mit hochprozentigen Cognacs heruntergespült. Gut, dass sie ihr bei dem Gespräch nicht gegenübergesessen hatte. So war ihr wenigstens diese widerliche Schnapsfahne erspart geblieben. Bei der letzten Begegnung hatte sie sich fast übergeben.

      Johanna musste sich jedes Mal überwinden, wenn sie ihre Mutter in Bremen besuchte. Schon bald nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter die Villa am Stadtrand verkauft und sich in einer Dachwohnung im Schnoor-Viertel niedergelassen, das sie auch als Atelier nutzte. Witwenrente und Lebensversicherung hätten ihr ein sorgenfreies Leben ermöglichen können. Da sie aber mit ihrem Geld um sich warf, um sich Anerkennung zu erkaufen, bewegte sie sich in jüngster Zeit immer häufiger an der Grenze des finanziellen Ruins.

      Johanna graute davor, diese Ausstellung in Worpswede zu besuchen. Aber wahrscheinlich würde sie nicht darum herumkommen.

      Regen prasselte an die Fensterscheiben. War das etwa schon der Auftakt zu den düsteren Tagen, die das Leben in ihrem einsamen Hexenhaus noch trüber machten? Johanna kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu denken. Das Telefon klingelte erneut. Diesmal war ihre Freundin Sabine dran. Doch es war kein entspanntes Geplauder unter Freundinnen, was folgte, sondern eine Art Dienstgespräch. Johanna war im Begriff, sich in einen Kriminalfall verstricken zu lassen – in der ungewohnten Rolle einer Enthüllungsjournalistin. Egal. Besser, als noch tiefer in diesem familiären Schlamassel zu versinken.

       Freitag, 7. September 2007, Langenhagen

      Er rannte, keuchte, schwitzte, spielte sich frei, ließ den Pass auf sich zukommen, stoppte den Ball, zirkelte ihn an zwei, drei gegnerischen Abwehrspielern vorbei – und schoss. Dem Torwart blieb keine Chance, unmittelbar unter der Latte schlug der Ball ins Netz.

      »Nicht schlecht, Alter.« Markus bekräftigte das Kompliment, schlug Sören freundschaftlich auf die Schulter.

      Sören war stolz. Es war zwar nur ein Trainingsspiel, aber er spürte, dass er gut in Form war, super in Form. Ein Mann am Seitenrand nickte anerkennend. Kurz vor Trainingsbeginn hatte der Mann noch Rasen gemäht. Es schien der neue Platzwart zu sein. Ein großer, hagerer Kerl von ungewöhnlich blasser Gesichtsfarbe, wie Sören auffiel. Seine Haare waren schon grau, fast weiß, doch bei näherem Hinsehen erkannte man, dass der Mann jünger war, als die Haare erwarten ließen. Besonders die Augen deuteten darauf hin, dass er vom Rentenalter noch weit entfernt war. Sören schien es, als würden sie ihm zulächeln. Komisch, schon von Anfang an hatte er das Gefühl gehabt, als wollte der Kerl etwas von ihm. Regelrecht angestarrt hatte der ihn, als er vor drei Wochen das erste Mal während des Trainings auf dem Platz gewesen war.

      »Ey, was is’n los? Träumst du, Alter?« Simons Stimme riss ihn aus seinen Grübeleien. Er hatte gar nicht gemerkt, dass das Spiel weiterlief.

      Mathias Mahnke war wie gebannt. Er sah sich außerstande, seinen Blick von diesem rotblonden Jungen mit dem gelben Trikot abzuwenden, der mit dem Ball umgehen konnte wie kein Zweiter auf dem Platz. Wieselschnell, athletisch, elegant, ausdauernd. Wie der sich den Ball erkämpfte, flankte oder aus zwanzig Metern Entfernung das Leder


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