Das Mädchen im Moor. Heinrich Thies

Das Mädchen im Moor - Heinrich Thies


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der er noch Fußball gespielt hatte. Doch es war ihm immer noch gelungen, seinen kleinen Bierbauch unter großzügig bemessenen Hemden oder weiten Pullovern zu verbergen. Zehn Jahre zuvor hatte er mit seiner Familie ein nagelneues Haus im Neubaugebiet von Fallingbostel bezogen, der alten Kreis- und Kurstadt, die sich neuerdings »Bad Fallingbostel« nennen durfte. Schon viele Jahre zuvor hatte Hartmann, ein Bauernsohn aus einem nahe gelegenen Heidedorf, sich der Jagdgenossenschaft Düshorn angeschlossen, dem einzigen Verein, dem er angehörte – von den Grünen vielleicht einmal abgesehen. Aber das war natürlich eine Partei, kein Verein. Nein, Feuerwehr und Schützenverein waren nicht sein Ding, ihm reichten die Uniformen, die er auf seiner Dienststelle zu sehen bekam, und er schätzte sich glücklich, seit der Versetzung zur Kripo seiner Arbeit in Zivil nachgehen zu dürfen.

      An diesem Tag hatte er sich mit seinen Jagdkollegen zu einer kleinen Stokeljagd im Düshorner Wald verabredet. Paar Hasen, Kaninchen, vielleicht ein Fuchs. Mit einer größeren Strecke war nicht zu rechnen.

      Die anderen Jäger, so um die zehn Männer zwischen achtzehn und achtzig und eine junge Frau, standen mit ihren jaulenden, fiependen Hunden schon auf dem Waldparkplatz herum, als er vorfuhr. Aus Fulde war auch Bauer Hansen zu Gast. Als Hartmann den stämmigen Kreislandwirt in seinem Lodenmantel bemerkte, fiel ihm ein, was er Ende vergangener Woche in seiner Dienststelle erfahren hatte: Mahnke war wieder auf freiem Fuß – dieser Studienrat, den er damals wegen des Mordes an der Schülerin hatte einbuchten lassen.

      Er war von seinen Vorgesetzten sehr dafür gelobt worden. Schon nach zwei Wochen hatte die Soko »Moorsee«, deren Chef er war, den Fall aufgeklärt. Die Indizien waren so dicht, dass der anschließende Prozess reine Formsache gewesen war. Auch Heiko Hansen, der Sohn seines Jagdfreundes aus Fulde, war am Rande in den Fall verstrickt gewesen – der Bauernsohn ging mit Annika in eine Klasse, hatte angeblich zeitweise ein Auge auf sie geworfen und wohnte auch nicht weit vom Tatort entfernt. Doch nach einer mehr routinemäßigen Überprüfung war der Junge aus dem Schneider gewesen. Sein Vater hatte bezeugt, dass er zu der fraglichen Zeit auf dem Hof geholfen hatte.

      Hartmann fühlte sich verpflichtet, den Waidgenossen über die letzte Entwicklung der lange zurückliegenden Geschichte in Kenntnis zu setzen, während er mit ihm ins Revier ging, um eine Schützenlinie zu bilden.

      Hansen zeigte sich empört. »Was? Der Kerl ist schon wieder draußen? Ich dachte, der hat lebenslänglich.«

      »Lebenslänglich heißt ja nicht ein Leben lang«, erläuterte Hartmann. »Nach fünfzehn, sechzehn Jahren haben die normalerweise die Chance, vorzeitig rauszukommen, wenn nichts dagegen spricht. Und Mahnke hat mittlerweile knapp siebzehn Jahre abgesessen, da ist es nicht ungewöhnlich, dass er wieder rauskommt.«

      »Siebzehn Jahre? So lange ist das schon her?«

      »Ja, Heinrich, die Zeit vergeht.«

      »Von mir aus brauchten sie diese Kerle gar nicht wieder rauszulassen«, sagte Hansen. Er stieß einen schweren Seufzer aus. »Hoffentlich geht das jetzt nicht wieder von vorn los.«

      »Wieso? Der Fall ist doch abgeschlossen.«

      »Klar, aber der Mahnke hat doch nie gestanden, dass er’s war. Hoffentlich spielt der jetzt nicht verrückt.«

      Hartmann spürte, dass die Neuigkeit den Jagdgenossen nicht kalt ließ. Als wenig später keine zwanzig Meter vor Hansen ein Kaninchen vorbeirannte, starrte der erfahrene Jäger geistesabwesend ins Leere. Er horchte erst auf, als ein anderer einen Schuss abgab.

       Dienstag, 11. September 2007, Langenhagen

      Sibylle Häcking wollte den Brief gerade in Sörens Zimmer bringen, da fiel ihr Blick auf den Absender: Sabine Mahnke, Oskar-Wolff-Straße, 29664 Walsrode. Sie war wie elektrisiert. Mathias’ Schwester. Bisher hatte sich die frühere Schwägerin an die Absprache gehalten und keinerlei Kontaktversuche unternommen, um Sören in Ruhe, abgeschirmt von seinem leiblichen Vater und dessen Familie, aufwachsen zu lassen. Was veranlasste diese Frau, Sören jetzt plötzlich nach all den vielen Jahren zu schreiben? In dieser Situation!

      Sibylle Häcking war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Konnte sie Sören diesen Brief zumuten?

      Boahh! Was war das für ein hässlicher Vogel, der ihn da im Spiegel angrinste: Adlernase, abstehende Ohren, rotblonde Haare und Pickelgesicht! Furchtbar! Sören hasste es, seine Aknesalbe aufzutragen. Schon das Kämmen war eine Qual. Denn das hieß unweigerlich, dass er sich im Spiegel betrachten musste. Und er hasste sein Spiegelbild, fand sich hässlich mit seiner stets geröteten Gesichtshaut, dem langen Hals und den wuchtigen Wangenknochen. Ekelhaft! Aber so hässlich wie in diesem Moment hatte er sich schon lange nicht mehr gefunden. Er schämte sich, mit diesem Monstergesicht weiter zur Schule gehen zu müssen, war sich hundertprozentig sicher, dass bald alle Welt in seinen widerlichen Gesichtszügen den Mörderbubi erkennen würde, der er ja auch in Wirklichkeit war.

      Wenn ich meine dämliche Visage wenigstens hinter einem Bart verstecken könnte, ging es ihm durch den Kopf. Aber außer diesen paar Härchen am Ohr konnte von Bartwuchs noch keine Rede sein. Das Einzige, was in meinem Gesicht wächst, sind die Pickel.

      Als er sich erneut im Spiegel betrachtete, stellte er mit Entsetzen fest, dass einer dieser Auswüchse zu allem Überfluss auch noch stark vereitert war und die linke Wange regelrecht entstellte. Kurzentschlossen suchte er sich seine spitze Nadel. Er stach auf den Pickel ein, dass der Eiter herausplatzte. Als er das gelbliche Zeug mit einem Papiertaschentuch abtupfte, stellte er fest, dass Blut aus der Wunde sickerte. »Scheiße. Das ist doch alles bloß noch zum Kotzen.«

      Die Enthüllungen über seinen Vater hatten ihn schwer getroffen, er war seit jenem Sonntagabend nicht mehr derselbe, hatte sich am darauffolgenden Tag in seinem Zimmer eingeschlossen und die Schule geschwänzt.

      Er machte seiner Mutter Vorhaltungen:

      »Du hast mich in einem fort belogen, die ganze Zeit hast du mir nur Scheiße erzählt«, klagte er. »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Hast du etwa gemeint, du könntest die Wahrheit bis in alle Ewigkeit vor mir verbergen, oder was?«

      »Ich …, ich habe mir gedacht, dass du erst mal erwachsen werden musst, um damit fertig zu werden. Das war es wohl«, sagte seine Mutter. »Aber ich weiß, dass …«

      »Dass was? Dass es nicht leicht ist, ein …« Er zog das Wort in die Länge. »Mörderkind zu sein, willst du sagen? Das meinst du doch, oder?«

      »Sören, bitte.«

      »Lass mich. Lass mich bloß in Ruhe, du Lügnerin.«

      Und dann hatte er seine Mutter aus seinem Zimmer gedrängt und die Tür von innen abgeschlossen.

      Seither hatte Sibylle Häcking praktisch kein Wort mehr mit ihrem Sohn gesprochen. Sie fürchtete, dass er sich etwas antun könnte in seinem Zimmer; immer wieder an die Tür geklopft hatte sie, gebettelt: »Lass uns reden, Sören, bitte, bitte lass uns reden, ich kann doch auch nichts dafür.« Doch er antwortete nicht, hatte irgendwann nur die Anlage eingeschaltet und seine harten, lauten Rap-Gesänge laufen lassen. Immerhin ein Lebenszeichen.

      Auch mit seinem Stiefvater sprach er nicht. Das Verhältnis der beiden war nie gut gewesen. Schon als Kind hatte Sören das Gefühl gehabt, dass Gerd, so nannte er seinen Stiefvater, ihn ablehnte. Ein Gefühl, dass noch stärker wurde, als Tobias zur Welt gekommen war, Sörens kleiner Bruder Tobi. Nein, es war kein Wunder, dass er sich jetzt weigerte, mit Gerd zu sprechen.

      Als stundenlang nur diese Musik in seinem Zimmer zu hören war, drohte seine Mutter, die Polizei zu rufen, falls er nicht endlich antworte. Das wirkte schließlich. »Lass mich in Ruhe!«, rief Sören. »Hör endlich auf mit der dämlichen Nerverei, verdammt noch mal.«

      Seine Mutter atmete auf. »Ich will dich ja in Ruhe lassen«, sagte sie. »Aber du musst mir versprechen, dass du keine Dummheiten machst. Versprichst du mir das? Bitte, Sören! Ich hab doch solche Angst.«

      »Lass mich!«

      Dann war Gerd gekommen, der als Anästhesist in der Medizinischen Hochschule Hannover tätig


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