Das Mädchen im Moor. Heinrich Thies
als anonymen Anrufer identifiziert hatten und die Affäre ans Licht gekommen war, da haben sie sich gar keine Mühe mehr gemacht, andere Spuren zu verfolgen. Dabei gab es im Umkreis von Annika schon manchen, der verdächtig war. Aber weil Dein Vater so schnell resigniert hat, haben sie den Aktendeckel einfach zugeklappt.
Für die Polizei besteht angeblich immer noch kein Grund, die Angelegenheit wieder aufzurollen, und für ein Wiederaufnahmeverfahren ist die Beweislage noch zu dünn. Gemeinsam mit Deinem Vater habe ich aber eine befreundete Journalistin gewonnen, die großes Interesse an dem Fall hat und mit unserer Hilfe recherchieren will. Auch sie meint, dass es da zahlreiche Ungereimtheiten gibt und schlampig ermittelt wurde. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das bald auch beweisen können – und herausfinden, was am 18. Mai 1990 am Grundlosen See wirklich geschehen ist.
Wahrscheinlich schwirrt Dir längst der Kopf von den vielen Fragezeichen. Viel schöner wäre es, wenn wir mal ausführlich darüber sprechen könnten und Du auch Gelegenheit zum Nachfragen hättest. Ich würde mich freuen, wenn Du mich in Walsrode besuchen würdest. Sprich doch bitte mit Deiner Mutter darüber. Jetzt, wo Du sowieso schon in diese Sache hineingeraten bist, müsste sie doch auch an einer Aufklärung interessiert sein. Selbstverständlich würde sich auch Dein Vater freuen, Dich bald einmal wiederzusehen.
Ich soll Dir übrigens von ihm herzliche Grüße bestellen.
Auch von mir alles erdenklich Gute.
Deine Tante Sabine.«
Sibille Häcking füllte gerade Auberginen und gekochte Kartoffelscheiben in ihre Auflaufform, als Sören aus seinem Zimmer kam und auf das schnurlose Telefon im Flur zusteuerte. Sie ließ alles stehen und liegen und schnitt ihm den Weg ab.
»Was schreibt sie denn?« Die Frage klang ängstlich.
»Einiges.« Sören nahm das Telefon aus dem Akkuständer.
»Geht’s vielleicht ein bisschen genauer?«
»Wozu?«
»Wozu? Also bitte, Sören! Ich, ich will dir doch nur helfen. Ich kann mir schon vorstellen, wie dich das alles aufwühlt. Das ist zu viel für einen allein. Glaub mir, ich meine es …«
»Lass mich.«
»Bitte, Sören, ich mache mir Sorgen um dich.«
Doch Sören ging schweigend an ihr vorbei, das Telefon in der Hand wie eine Waffe.
»Was hast du denn jetzt vor?«
»Ich ruf Sabine an, Tante Sabine.«
»Wie? Aber warum das denn? Was, äh, was willst du denn von der?«
»Das ist zwar eigentlich meine Sache, aber wenn du schon so direkt fragst: Ich will sie besuchen, mit ihr sprechen.«
Seine Mutter schüttelte irritiert den Kopf. »Sören, bitte, pass auf. Lass dich da nicht reinziehen.«
Sören atmete tief durch. »Mama, falls du es noch nicht kapiert hast: Ich bin schon mittendrin. Und es bringt gar nichts, wenn du weiter so tust, als wenn mein Vater gestorben wäre.«
Sibylle Häcking starrte eine kleine Ewigkeit lang wie benommen auf ihre Knie, bevor sie erneut ihre Frage stellte: »Was hat Sabine denn geschrieben?«
»Sie schreibt, dass mein …«
In diesem Moment kam Tobias zur Tür herein. »Hallo, Sören.«
»Hallo, Tobi.« Mit diesen Worten verschwand Sören in seinem Zimmer.
Sofort wählte er die Nummer seiner Tante in Walsrode. Er hatte Glück. Schon nach dem zweiten Klingelzeichen nahm sie ab. Sie sprach mit ihrem Neffen, als würde sie ihn schon lange kennen, und selbstverständlich hatte sie keine Einwände, als er sie fragte, ob er am nächsten Tag gegen vier bei ihr vorbeikommen könne. Er hatte sich die Zugverbindung schon aus dem Internet gesucht.
Freitag, 14. September 2007, Walsrode
Der Himmel war blau wie lange nicht mehr. Die schon herbstlich eingefärbten Gärten badeten im Glanz der Septembersonne. Trotz des Sonnenscheins war es kühl, angenehm kühl, wie Johanna von Seewald fand. Ideale Voraussetzungen für eine Fahrradtour, beste Bedingungen für einen Ausflug ins Moor. Denn so betrachtete die freiberufliche Journalistin ihre kleine Erkundungsfahrt. Als Ausflug. In den Tagen zuvor hatte sie noch hart gearbeitet, um ihre unterschiedlichen Auftraggeber zufriedenzustellen. Die einen wollten eine Reportage über Neonazis in der Heide mit dem etwas überspitzten Arbeitstitel »Braun ist die Heide«, die andern eine Geschichte über den mysteriösen Mord an einer jungen Frau aus der Celler Kurdenszene. Die Recherchen hatten ihr zwar lange und hektische Arbeitstage beschert, und auch das Schreiben war ihr wieder mal überhaupt nicht leichtgefallen, aber am Ende war es ihr doch gelungen, die Texte termingerecht zu senden, und das zu erwartende Honorar würde ihr erst einmal wieder ein beruhigendes Polster verschaffen.
Ob ihr gegenwärtiger »Ausflug« jemals Geld einbrachte, war fraglich. Aber es war spannend. Und alles so nah. Als ihre Freundin Sabine sie das erste Mal darauf angesprochen hatte, war sie alles andere als begeistert gewesen: Wieder mal die übliche Knast-Geschichte. Ein Häftling, der darüber jammert, dass sich Polizei und Justiz gegen ihn verschworen haben und er zu Unrecht im Knast sitzt. Wem sollte man da glauben? Wo ansetzen? Doch in diesem Fall nahm sich die Sache von Anfang an etwas anders aus. Bei dem Häftling handelte es sich um den Bruder ihrer Freundin, und Mahnke war ein ehemaliger Lehrer, Studienrat. Intelligent, attraktiv, beliebt. Je mehr ihr Sabine erzählte, desto merkwürdiger erschien ihr die Geschichte.
Die Arbeit daran lenkte sie von den Absonderlichkeiten ihrer eigenen Familie ab. Sie hatte es immer wieder herausgeschoben, ihrer Großmutter zu antworten. Wie sollte sie auf diesen durchgeknallten Brief reagieren? Deutlich machen, dass der Besuch des Toten einer Wahnvorstellung entspringe? Nein, so hart konnte sie nicht sein. Aber ihr war klar, dass ihre Großmutter geradewegs auf die Klapsmühle zusteuerte – ein Gedanke, der sie traurig stimmte.
Noch nervenaufreibender waren die ständigen Anrufe ihrer Mutter. Dieses flehentliche Drängen, hochkarätige Journalistenkollegen zu ihrer Ausstellung zu dirigieren, keinesfalls den Termin zu vergessen. Die Angst, die daraus sprach. Das fahrige, überspannte Gerede, das nur um das eigene Ego kreiste und von empörendem Desinteresse bezüglich ihrer Tochter geprägt war. Der Alkoholkonsum, der bei jedem Gespräch spürbar war. Manchmal war es Johanna, als würde ihr die Schnapsfahne schon aus dem Telefonhörer in die Nase steigen. Sie musste mit Grauen daran denken, dass die Vernissage von Tag zu Tag näherrückte.
Bisweilen beschlich sie das Gefühl, nur noch von den Schicksalen anderer angetrieben zu werden und gar kein eigenes Leben mehr zu führen. Immer wieder überlegte sie, ob es nicht das Beste sei, das morsche Hexenhaus zu verkaufen, Walsrode zu verlassen und in eine Großstadt zu ziehen. Eigentlich war sie doch nur wegen ihres Freundes hergekommen, und jetzt hielt sie hier allein die Stellung. Auf verlorenem Posten.
Andererseits fühlte sie sich nicht unwohl in der selbst ernannten Hermann-Löns-Stadt. Walsrode gefiel ihr. Das überschaubare Zentrum – die Eckernworth, dieser wunderbare Stadtwald mit den riesigen Buchen und Eichen, den Hügeln und Forellenteichen. Die netten Leute, und schließlich auch die Lage zwischen Hamburg, Bremen und Hannover. Man lebte im Grünen und war trotzdem binnen einer Stunde in jeder dieser drei Städte.
Die eher kleine Frau mit den dunkelbraunen, halblangen Haaren und der Vorliebe für Perlenketten war auch nicht in der Gefahr zu vereinsamen. Durch ihren Freund Jens hatte sie etliche Menschen kennengelernt, zu denen sie nach der Trennung weiter Kontakt hielt. Dazu zählte auch Sabine, eine frühere Arbeitskollegin ihres Verflossenen. Am Rande hatte sie schon vor längerer Zeit mitbekommen, dass deren Bruder im Gefängnis saß. Sie wusste von dem Wirbel, den der Mord an der Schülerin seinerzeit in Walsrode nach sich gezogen hatte. Immer wieder wenn sie über andere Kriminalfälle geschrieben hatte, war sie darauf hingewiesen worden – auch von ihrem früheren Partner.
Johanna verließ Walsrode in Richtung Fulde. Zur Linken lag das Eckernworth-Stadion, von dem am Wochenende oft das Schreien und Johlen der Fußballspieler und ihrer Fans zu hören war.