Das Mädchen im Moor. Heinrich Thies
baute sein Vater eine Brücke, um zu einem ernsteren Thema überzuleiten. »Ich hätte dir ja gern noch öfter beim Training und bei den Spielen zugesehen. Aber deine Mutter ist leider nicht so begeistert davon, wie du weißt.«
Sören sah verlegen nach draußen, Sabine schob ihre Brille hoch. Eine Wespe ließ sich auf dem Käsekuchen nieder, man ließ sie gewähren.
»Man muss sie verstehen«, fuhr Mahnke fort. »Das ist natürlich nicht so leicht, wenn der Mann ins Gefängnis kommt und man das Kind eines verurteilten Mörders großziehen muss.« Er bemerkte, dass Sören erschreckt auffuhr und seine Schwester ihm einen strafenden Blick zuwarf. »Entschuldigung, aber man muss der Realität schon auch ins Auge sehen. Und das Wichtigste, was ich dir heute begreiflich machen möchte, ist ja eben, dass du nicht der Sohn eines Mörders bist. Ich hätte dir das gern alles erspart und lieber mit dir über Fußball und deine Schule gesprochen, aber es führt leider kein Weg daran vorbei.«
Sören nickte, Sabine richtete wieder ihre Brille. Mathias Mahnke strich sich mit dem Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand über die Stirn und lenkte den Blick zurück auf die Ereignisse vor siebzehn Jahren – auf die Zeit, als er noch Gymnasiallehrer in Walsrode gewesen und gerade Vater eines kleinen Jungen geworden war.
Sören hörte gebannt zu, fragte nach, hielt den Atem an. Im gleichen Maße wie er Verständnis und Mitgefühl für seinen Vater entwickelte, wuchs der Zorn auf seine Mutter.
Sein Vater hielt inne, musterte ihn und seufzte. »Mein Gott, Sören, ich rede und rede und denke überhaupt nicht mehr darüber nach, was ich dir hier zumute. Aber das übermannt einen einfach immer wieder. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst?«
Er wartete die Antwort nicht ab. »Es ist mir einfach unheimlich wichtig, dir zu sagen, dass ich nicht dieses Scheusal bin, zu dem sie mich gemacht haben, verstehst du?«
»Klar verstehe ich das. Und ich glaub dir, Papa.«
Unwillkürlich legte Sören seine Hand auf die Hand seines Vaters. Mathias Mahnke warf den Kopf zurück und atmete tief durch, um die Rührung zu unterdrücken, die ihn überkam. »Danke, Sören. Danke, dass du mir vertraust, und danke, dass du mich Papa genannt hast.« Er räusperte sich. »Aber dass du mich richtig verstehst: Ich will dich nicht vereinnahmen, ich will mich nicht in dein Leben drängen. Du sollst frei entscheiden, verstehst du?«
»Schon klar.«
Sabine hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Jetzt durchbrach sie die aufkommende Beklemmung, indem sie sich Sören mit einer harmlosen Frage zuwandte: »Noch ein Stück Käsekuchen?«
Kurze Zeit später ließ Sören sich von den beiden durch die Eckernworth führen. Die Blätter begannen sich schon zu färben. Erste Gelb- und Rottöne mischten sich in das Grün der Buchen, Birken und Eichen. Strahlen der Abendsonne brachen durch das dichte Laubwerk und warfen zitternde Lichtflecke auf den Waldboden. Das Gehölz war schmal, zog sich aber oberhalb des Fuldetals über zwei, drei Kilometer wie ein Hügelkamm durch eine urwüchsig anmutende Waldlandschaft. Durch das Geäst der Laubbäume schimmerte das Wasser der tiefer liegenden Fischteiche. Während die drei über den hochgelegenen Waldweg spazierten, flog ein großer grauer Vogel von dem Wasser im Tal auf.
»Ein Graureiher, auch Fischreiher genannt«, erläuterte Sabine. »Hat sich wahrscheinlich gerade bedient.«
»Schöner Anblick«, kommentierte ihr Bruder.
»Wahrscheinlich nicht für den Teichwirt«, erwiderte Sabine.
Mathias Mahnke nickte lächelnd. »Das alte Spiel. Aber auch sonst ist hier in der Eckernworth zum Glück alles beim Alten geblieben. Da sieht es in der Stadt schon anders aus. So manches Geschäft ist verschwunden, und nicht überall, wo ein alter Kaufmann ausgezogen ist, ist ein neuer wieder reingegangen.«
»Nur die Billigläden und Discounter werden immer mehr, ansonsten sieht es hier ziemlich düster aus«, ergänzte Sabine.
Eine Joggerin mit rotem Stirnband schnaufte vorbei.
»Eine Fitnessjüngerin im Lönswald«, spöttelte Mahnke. »Diese Jogger sieht man jetzt überall, das hat scheinbar enorm zugenommen.«
»Irgendwas muss man ja auch tun, wenn man den ganzen Tag rumsitzt«, sagte Sabine und wandte sich Sören zu: »Joggst du auch oder reicht dir dein Fußballtraining?«
»Laufen gehört zum Training, das reicht mir.«
Als sie gerade den »Jungbrunnen« passierten, das sandige Auffangbecken eines kleinen Wildbachs, arbeiteten sich zwei Frauen mit Kunststoffstöcken und verbissenem Gesichtsausdruck an ihnen vorbei.
Mahnke machte aus seiner Verwunderung kein Hehl. »Was ist das denn? Üben die für Ski-Langlauf?«
»Das ist Nordic Walking«, erläuterte Sabine. »Man merkt, dass du lange Zeit weg warst.«
»Sieht ziemlich verkrampft aus.«
»Wird aber von Ärzten empfohlen, weil es angeblich die Schultermuskulatur lockert.«
»Na super! Die Freizeitindustrie jubelt wahrscheinlich. Endlich hat man den Leuten das unprofitable Spazierengehen ausgetrieben und ihnen eingeredet, dass sie sich nur noch mit Stöcken vorwärtsbewegen können.«
»Sei doch nicht immer so kritisch, Mathias.«
Sie erreichten einen kleinen Moorteich. Fette Karpfen schossen durch das trübe Wasser. Vom nahe gelegenen Eckernworth-Stadion schallten Schreie herüber. Als Sabine ihren Neffen darauf hinwies, musste Sören daran denken, dass seine Mannschaftskameraden gerade beim Training waren. Sollte er wirklich das Spiel am Sonntag ausfallen lassen?
Ein Mann mit Hund kam den dreien entgegen. Sören bemerkte, dass der Mann seinen Vater verstohlen, aber eindringlich musterte. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm waren, grüßte er zuerst Sabine und wandte sich dann mit gehetztem Blick ihrem Bruder zu. »Herr Mahnke?«
Fassungslosigkeit spiegelte sich in der Frage.
»Frank?«, erwiderte Mahnke. »Frank Schnurrhahn?«
»So ist es«, antwortete der Hundehalter unterkühlt. »Lange nicht gesehen.«
Mit diesen Worten war er mit seinem Boxer auch schon vorbeigezogen.
Sören spürte, dass die Begegnung seinen Vater nicht kaltließ.
»Schnurre«, murmelte er mehr vor sich hin. »Das war mal mein Schüler.«
»Der ist jetzt Zahnarzt hier in Walsrode«, sagte Sabine. »Hat die Praxis von seinem Vater übernommen.«
»Sieh mal einer an, hat er’s doch noch geschafft. Dabei war er nie eine große Leuchte.«
»War der in der Klasse von …?«
»Genau.«
Mathias Mahnke starrte schweigend auf seine Schuhspitzen.
»Er ist seit einem Jahr allein«, fuhr Sabine fort. »Seine Frau hat ihn mit den beiden Kindern verlassen. Keiner weiß, was da vorgefallen ist.«
Als sie in Erwartung einer Reaktion verstummte, blickte ihr Bruder sie verständnislos an. »Wie bitte? Wer hat wen verlassen?«
Als die drei zum Haus zurückkamen, teilte Sabine Sören mit, dass sie ihre Freundin zum Abendbrot eingeladen habe: die Journalistin Johanna von Seewald, die sie schon im Brief erwähnt hatte.
»Die ist bekannt für ihre hartnäckigen Recherchen«, sagte sie. »Die lässt sich nicht mit müden Allerweltserklärungen abspeisen. Ich glaube, besser geht’s nicht. Die Polizei hat natürlich kein Interesse daran, dass die alten Sachen wieder aufgerührt werden. Aber Johanna könnte eine große Exklusivgeschichte darüber schreiben. Die arbeitet für die besten Zeitungen in Deutschland. Da wird sie garantiert nichts unversucht lassen, die Dinge noch mal genau unter die Lupe zu nehmen. Natürlich müssen wir ihr helfen, ich meine, Mathias und ich, aber sie wohnt schließlich auch schon ein paar Jahre in Walsrode und kennt die Szene hier einigermaßen. Wir haben gestern Abend erst telefoniert. Hörte sich ziemlich zuversichtlich