Dantes Inferno I. Akron Frey
dem Weltall herabgestiegen waren, um die Sehnsucht in die Welt zu tragen, die Sehnsucht nach dem Leben, das sich im Mutterschoß und an der Mutterbrust erfüllt. Ich wußte nicht mehr, ob meine Sinne verwirrt und in den Wassern der Täuschung verfangen waren oder ob sie einer höheren Einsicht stattgaben, um hinter dem Sichtbaren eine andere Realität zu erfahren, die meinen Augen normalerweise verschlossen blieb. Doch dann erkannte ich die Tür: Es war die Tür meines Sarges – der Deckel von Schneewittchens gläsernem Sarkophag.
Ja, jetzt erinnerte ich mich wieder, jetzt erinnerte ich mich genau: Stiefmutter hatte mir den präparierten Apfel gegeben, und ich war an seinem Gift erstickt! Aber jetzt fand ich meinen Retter, meinen kühnen Helden, der sein Leben für mich opfern wollte. Er gab mir ein Zeichen, daß ich die Türe öffnen sollte. Er wollte mich retten. Jaja, ich verstand, er wollte mich berühren, in mich eindringen, er wollte sich in meinem Uterus finden, aber ich wollte mich nicht anfassen lassen. Er kniete am Ufer und hörte deutlich meine Stimme, die Stimme seiner Mutter, die nach ihm rief. Dann versank er langsam in den Fluten. Ich winkte ihm zu, ja …, jetzt hatte er mich erkannt … Er röchelte nach Luft und klopfte an die Tür. Da spürte ich sie wieder, meine klaustrophobische Angst, jedesmal ersticken zu müssen, wenn mich jemand berühren wollte. Trotzdem ließ ich ihn herein und öffnete meinen Schoß; dabei sprengte er meinen Leib, die Haut, den Bauch – das Fruchtwasser lief aus, und aus dem Uterus strömte eine ekelhafte grüne Masse …
Das war knapp», hörte ich Akrons Stimme neben meinem Ohr, «du bist über die Realität hinausgeschossen und beinahe daran krepiert. Ich selbst bin schon viele Male über diese Welt hinausgegangen», erläuterte er mir, «deshalb weiß ich, was dort passiert. Schneewittchen hat sich selbst vergiftet, denn die böse Stiefmutter ist ein innerer Bestandteil ihrer selbst. Und dieses Gift schwebt noch immer in der Welt, bereit, mit Leib und Seele zu vernichten, wer die Voraussetzungen zur Täuschung nicht in sich selbst erkennt. Darum hat die Seele auch Angst, sich selbst zu empfinden und zu öffnen, was das Verhalten an diesem Ort erklärt. Eine bessere Lösung aber, statt vor sich davonzulaufen, bestünde darin, den Apfel bewußt zurückzunehmen. Erlösung kann nur durch das bewußte Loslassen des lebensvernichtenden Egotrips geschehen, den die böse Stiefmutter als Verkörperung des eigenen Schattens immer wieder heraufbeschwört. Doch wir können es nicht ändern – dies entspricht exakt dem Leiden dieser Hölle. Komm raus! Wir müssen weiter!»
Da wurde mir auf einmal klar, daß ich mit dem Gesicht im Wasser lag. Akron zog meinen Kopf über die Wasseroberfläche und befahl mir, aufzustehen.
«Ich kann nicht», entgegnete ich.
«Und warum nicht?» erwiderte er.
«Ich kann nicht, weil ich noch gar nicht geboren bin … weil ich in den Wassern des Lebens ertrunken bin …»
«Laß das und spuck den Apfel sofort aus!» sagte er energisch und knallte mir seinen Stock so heftig auf das Haupt, daß die Blase in meinem Kopf zersprang und die ekelhafte grüne Maße wie eine Fontäne aus meinem Mund herausquoll. Dann packte er mich an der Hand: «Sonst läßt dich die Sehnsucht nicht mehr los. Im Dämmern der Seele wacht die Angst auf und mit ihr die Sehnsucht nach dem Paradies. Die Sehnsucht nach dem Garten Eden ist die lyrische Sehnsucht nach dem Tod. Die Gefangenen dieser Hölle leben in einem Wahn, der sich aus ihren embryonalen Sehnsüchten bildet. Komm raus! Wir müssen weg!»
«Aber was ist ihre Schuld?» Ich riß mich los.
«Die Seelen, die sich aus Angst vor den Gefühlen nicht in ihre eigene Identität hineingetrauen, suchen ihre Aufgabe darin zu finden, daß sie sich zwischen die Welten stellen, um den Garten Eden im Uterus zu finden. Die schlummernde Psyche ist vom eigenen Geschehen abgeschnitten. Auf Ausformungen des Lebens erfolgen keine persönlichen Reaktionen mehr. Statt sich in der Umwelt darzustellen, versuchen sie, ihre Träume mit der Realität zu verweben und dadurch in jene geistigen Bereiche zu entschweben, wo alles Körperliche aufgehoben ist. Es sind die Feen, die in den Wassern schlummern, die die Welt nur träumen, die vertrieben von den Gestaden des Lebens in den Wassern der Unberührten existieren und alle Träumer in ihre Abgründe hinunterziehen», antwortete er. «Los! Raus!»
Merkur in Fische
Vorhölle
Die Vorhölle der mystischen Eingebung an der Schwelle zur Auflösung der Wahrnehmung
Sünder
Ver-Rückte, Ent-Täuschte, Auf-Löser und Ent-Grenzer zwischen Traum und Wirklichkeit: Lügner, Betrüger, Scharlatane, Hellseher, Zauberer, (Doppel-)Spione
Disposition
Der Schattenbereich von Merkur in den Fischen und Merkur im 12. Haus sowie disharmonische Merkur/Neptun-Aspekte
Schuld
Versponnenheit, Irrationalität, Verworrenheit, Phantasterei, Hirnmüdigkeit, geistige Betäubung, inneres Entschweben, Mangel an Realitätssinn, Flucht vor Menschen, Rückzug aus der Welt, Sehnsucht nach geistiger Durchdringung und der Wunsch, die Schleier durch Auflösung des Denkens zu heben
Strafe
Diese Hölle erzeugt aus verworrenen und verschwommenen Gedankengängen oft wahnhafte Gesichter und hysterische Verstrickungen, denn hier bist du zur Strafe in deine eigenen Gedanken eingesperrt. Versorgungsängste und Verfolgungswahn führen entweder zum Rückzug aus der Welt oder zum Bedürfnis, dich deiner Ratio durch Betäubung wenigstens für kurze Augenblicke zu entziehen. Hier verschmilzt du in den Tiefen deines Bewußtseins mit jener höllischen Einsicht, selbst nur Bühne unbewußter Gespenster oder Rahmen visionärer Botschaften zu sein, die zwar Himmel und Hölle inszenieren, in Wahrheit aber nur einen Mangel an Realitätssinn darstellen. Du kannst die Wirklichkeit nur noch durch die Bilder erfahren, die du dir selbst geschaffen hast. Das entspricht dann jener Vorstellung von Wirklichkeit, die zwar sehr sinnvoll ist, auch wenn sie natürlich niemals stimmt. Nur wenn du sie zu hinterfragen suchst, wird dein ganzes Denken sinnlos, denn damit läufst du ja deiner eigenen Wahrnehmung davon. Deshalb gibt es außer dieser Hölle keinen Ort, wohin du fliehen könntest. Wenn du die Illusion als Illusion erfahren willst, dann gerätst du von der Illusion sinnvoller Ziele zum Bild sinnloser Wahrheit! Wenn nicht, dann bleibst du bei einem Bild deiner Projektion. Du projizierst das Inventar deiner Bilder auf alles, was dir von außen entgegentritt, und reagierst dann auf dein Bild anstatt auf das Geschehene. Du kannst deinem Denken aber nicht entfliehen, denn es färbt ja die Inhalte von allem, was du siehst: Du lebst also nicht in dem, was geschieht, sondern in dem von dir durch deine Vorstellung selbst geschaffenen Raum/Zeit-Kontinuum.
Lösung
Die rationale Basis der Materie mit ihren funktionalen Handlungsabläufen ist hier weggespült. Dafür wird dein gesamtes Selbst von kosmischen Erfahrungen durchdrungen, denn der Geist dieser Hölle jagt deinen Verstand auf seiner Reise ins Unfaßbare durch Kanäle, die man mit den Werkzeugen des Denkens nicht mehr nachvollziehen kann. Dies kann eine Eignung für die Fiktionen mathematisch-mystischer oder okkult-utopischer Richtung anzeigen, in denen weniger das Detail als der Sinn fürs Ganze herausgehoben werden will. Denn durch deine Prägung kannst du deinen Mitmenschen den Weg zu einem Mythos zeigen, der wahr und doch nicht wahr ist, da sein Inhalt für alle Zeiten unerschöpflich ist. Faßt man ihn symbolisch auf, ist er der Anfang und das Ende, untersucht man ihn aber konkret, dann stellt er sich als das Nichts heraus, aus dem alles Göttliche hervorgegangen ist.
Wessen Augen sind die Sterne?
An der Grenze zur Merkur-Sphäre lagerte eine große Nebelwand. Akron stand neben mir und sprach: «Hier stehen die Seelen am Nichts. Ich hoffe, du bist nüchtern genug, um dir auch das Formlose anzusehen, die Ur-Energien, nach deren magnetischen Ausrichtungen sich überhaupt erst das gestaltet, was du in der Welt als Form erkennst. Im Unbewußten verkörpert diese Ebene das Staunen, mit