Dantes Inferno II, Das Auge der Hölle. Akron Frey
Epilog - Die Schwelle zum Paradies
Das Auge der Hölle aus multipler Sicht
Ein kleiner Exkurs in die multidimensionale Welt der Psyche
Ich habe einmal mit dem Wächter gesprochen und ihn gefragt, wie man tiefer in die Geheimnisse der Seele eindringen könne. Er antwortete mir, er wisse dafür keine Lösung. Da erzählte ich ihm, daß ich ein Buch über die Hölle schreiben wolle. „Nur ein Narr traut sich ein solches Unterfangen zu“, entgegnete er ruhig, „denn die Hölle sprengt alles, was du verstandesmäßig kontrollieren kannst!“ Dann führte er mich Stufe um Stufe zu einer finsteren Gruft hinab, in deren Boden ein Auge wie das Tor zur Hölle eingelassen war. „Willst du wirklich wissen, was die Hölle ist, dann warte hier, bis deine Erinnerung erwacht“, sagte er und war verschwunden. Ich weiß nicht mehr, wie viele Jahre es dauerte, bis ein Mann mit einer Kapuze mich freundlich aufforderte, seinem Blick zu folgen: „Nichts, was verstanden werden kann, kann die Hölle sein: Wirfst du aber einen Blick in den Abgrund deiner Seele hinein, kannst du mit meinen Augen auf der anderen Seite erwachen!“ So sprach die düstere Gestalt. Und von da an verlief sich die Spur des Fragenden…
„Das Auge der Hölle“ hat keinen Handlungsablauf im dualen Sinn, denn das Buch ist aus der Sicht des Unbewußten formuliert. Auf den ersten Blick scheint das Ganze eine wirre Mischung aus Gedankenfragmenten zu sein. Rückblenden werden ansatzlos eingefügt und Zeiten völlig durcheinandergewirbelt. Eine zeitlich lineare Abfolge existiert ansatzweise nur im ersten Teil. Im Verlauf der Geschichte wird die Zukunft mit der Vergangenheit verquirlt und in die scheinbare Gegenwart integriert, die sich aber wiederum als Alptraum einer „vergessenen“ Erinnerung herausstellt. Deshalb braucht es etwas Übung, bis man die richtige Technik beherrscht. Ähnlich, wie man bei dreidimensionalen Bildern nicht krampfhaft auf die Oberfläche schauen darf, sondern sich leicht schielend durch das Bild „hindurchfallen“ lassen muß, so sollte man kontemplativ über die Zeilen gleiten, ohne am Verstehen-Wollen der einzelnen Passagen hängenzubleiben. Dann versteht sich die Aussage schon nach wenigen Seiten wie von selbst, denn der Text ist so strukturiert, daß sich die Bilder im Unbewußten ganz von alleine aufspannen, solange man die kontrollierende Absicht des Verstandes loslassen kann.
Bevor wir uns aber mit dem geistigen Hintergrund eines Buches befassen, zu dessen Verständnis man nach einer Anleitung sucht, müssen wir uns zuerst mit der Vorstellung anfreunden, daß die „Beschreibung der Welt“ nur in unserem Kopf existiert und zwar durch die Brille, die uns unser soziales Umfeld diktiert. Diese Sichtweise verändert sich im Leben je nach Verschiebung des Fokus, durch dessen Linse wir die Welt betrachten. Jede Veränderung der Perspektive verwandelt natürlich auch den Hintergrund, auf den sich die Erfahrung der ursprünglichen Sichtweise bezieht, und man kann von verschiedenen Standpunkten aus verschiedene Assoziationsebenen auslösen, die unbekannte Teile unserer Persönlichkeit freilegen. Andererseits wird jedes „zukünftige Erlebnis“ an den Erfahrungen der Vergangenheit gemessen und der Gefühlswert des Zukünftigen damit aus dem Verflossenen assoziiert. Somit ist die „zukünftige Erfahrung“ lediglich das Resultat der Messung neuer Eindrücke an den vergangenen Beobachtungen auf anderen Ebenen, deren Auswirkungen wie die Ringe eines ins Wasser geworfenen Steines sich immer wieder auf die ursprüngliche Prägung in der Kindheit beziehen. Die „Straße der Zukunft“ rollt auf dem Pflaster vergangener Erfahrungen, und das ganze Leben ist im Grunde weniger ein fortlaufender Abenteuerroman, sondern eine sich immer enger zusammenziehende „Episodengeschichte“, die sich nur durch die kontrollierende Instanz des Egos wie eine fortlaufende Geschichte anfühlt. „Das Auge der Hölle“ illustriert diesen Mechanismus, wenn sich die vielen Wege mit zunehmender Dauer immer mehr verdichten und die immer wieder gleichen Bilder durch verschiedene Sichtweisen und Rückblenden zu einer fixen Realität verbinden, die dem Leser zeigt, wie simple Bilder durch bloße Vernetzung zu ganzen Vorstellungs- und Empfindungskomplexen im menschlichen Hirn „realisiert“ werden.
Wir haben es in der Psyche aber nicht nur mit Erlebnissen zu tun, an die wir uns erinnern können, sondern auch mit Begebnissen, die wir von uns abgespalten haben, da wir uns mit ihnen nicht identifizieren können. Und neben den bewußten und verdrängten Vorgängen haben wir uns auch noch mit unerlebten, aber uns zugehörigen Erfahrungsmustern auseinanderzusetzen, die wir energetisch in unsere Erinnerungen eingeknüpft haben. Diametral zu den Ereignissen, die wir zwar erlebt, aber verdrängt haben, gibt es diese „unerlebten Wunschvorstellungen“, die wir nicht erfahren haben, die aber trotzdem so stark mit uns verbunden sind, daß wir sie als Teil unserer Erinnerung betrachten (beispielsweise „Akron“, mein Alter ego). Diese Geschehnisse bilden mit anderen unerlebten Energien Erlebnisbündel, die unter unserer Bewußtseinsschwelle eigene Handlungsabläufe kreieren und, ohne je Realität zu werden, auf unsere Persönlichkeit großen Einfluß nehmen. Sie können das mentale Geschehen verändern, so daß wir im Nachhinein tatsächlich glauben, unrealisierte Begebenheiten in der Wirklichkeit erfahren zu haben. Mit anderen Worten: Unbewußt gibt es keine duale Schiene Vergangenheit-Zukunft, sondern das ganze menschliche Erleben ist wie ein Spinnennetz so in die Psyche verwoben, daß wir jedes zukünftige Ereignis mit ähnlichen vergangenen Erfahrungen vergleichen und das Erlebnis an der Stelle im Netz positionieren, an der es an vergangene Ähnlichkeiten anknüpft.
Aus diesen Gründen kann eine Geschichte aus der Position des Unbewußten auch nicht linear erzählt werden, sondern sie wird in unterschiedlichen Erzählungskomplexen über das ganze „Assoziationsfeld der Psyche“ verteilt, deren Fortlauf nicht „fadenförmig“ verläuft, sondern sich von den verschiedenen „Assoziationsgeflechten“ aus zu einem unsichtbaren Ganzen „strickmusterförmig“ entwickelt. Vereinfacht ausgedrückt stellt sich der Geist dieses Spinnennetzes als „zukünftige Erinnerung“ dar, d. h. entweder als vergessenes Ereignis, das im Unbewußten wirkt, bis es sich wieder in die Gegenwart drängt, oder (in ihrer verkehrten Überlappung) als psychisch mögliche, aber unerlebte Vergangenheit, die, obwohl die Seele dafür bereit gewesen wäre, nicht in das reale Geschehen durchgedrungen ist. Als unerlebte Wirklichkeit kann sie weiter im Unbewußten wirken, zumindest solange, bis sich das „unbearbeitete“ Unerlebte in die Zwischenwelt der Träume und Phantasien eingefügt hat (und die von den Menschen oft in ihre Biographien eingearbeitet werden, obwohl sie real gar nie stattgefunden haben). Da sich die vielen Handlungsfäden vor dem „inneren Auge der Seele“ trotzdem zu einem Ganzen verbinden können, auch wenn der Verstand das „Strickmuster“ linear nicht zu entschlüsseln weiß, muß das „Auge der Hölle“ mit dem „inneren Sehen“ erfühlt werden, damit sich dem Leser die vielschichtigen inneren Perspektiven vor seinem geistigen Erleben auftun können.
Arbor Felix, 12. August 2002 - 01h55
C. F. Frey
Es stehen viele Geschichten in den geheimnisvollen Zauberbüchern, den schwarzen, unergründlichen Apokryphen der Hölle. Sie berichten von Dingen und Geschehnissen, die sich in der Tiefe der Erde ereignen, in der Finsternis der Nacht, aber nirgends, o Wanderer, findet sich die Geschichte der Seelen, die den Seufzern der Leere lauschen, dem Räuspern des Nichts, und die in der Einsamkeit schaudern und vergeblich einen Ausweg aus dem Schreckensgewölbe ihrer Träume suchen. Sie sühnen in den Verstrickungen ihrer Bilder, den Gefängnissen der Sehnsüchte, und sind sich dabei ihrer Strafe bewußt, obwohl sie versuchen, sie aus ihrem Gedächtnis zu tilgen: Aber so wahr ich hier stehe, sie müssen durch die Hölle hindurch, denn
… das Licht der Erkenntnis
leuchtet aus dem Vorhof der Hölle!