Dantes Inferno II, Das Auge der Hölle. Akron Frey

Dantes Inferno II, Das Auge der Hölle - Akron Frey


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       Ich saß an meinem Schreibtisch und grübelte darüber nach, wie es in meinem Leben weitergehen sollte. Nichts wollte mich erfreuen, meine Gedanken gingen ins Leere; ich fühlte mich überall frustriert. Eigentlich wollte ich ein Buch über das Ringen um die Sinnfrage schreiben, die den Menschen oft in seiner Lebensmitte befällt, doch dann fühlte ich mich selbst in die Abgründe hineingerissen, die ich nur beschreiben wollte, und auf einmal kam mir mein Leben völlig sinnlos vor. „Der Schatten auf meiner Seele muß verschwinden“, dachte ich laut. Ich spürte das mitleidslose Rad der Zeit, das sich in meinem Körper drehte.

       „Doch einer tieferen Auseinandersetzung mit den Hintergründen deiner Probleme gehst du tunlichst aus dem Wege“, hörte ich eine näselnde Stimme in mir, die ich für mein abgespaltenes psychologisches Verständnis hielt, „statt dessen versuchst du, das Leben für dein Scheitern verantwortlich zu machen, statt dir vor Augen zu führen, wo das Übel sitzt und wie schwer es ist, Bestehendes dort zu verändern, wo du selbst Sachverwalter des Bestehenden bist, nämlich in deinem eigenen Kopf.“

       „Ich weiß manchmal auch nicht, wie sich diese düsteren Gedanken in mir zusammenballen, aber ich wünsche mir, daß du mir hilfst, meine Depressionen zu überwinden“, erwiderte ich dem Geist dieser Stimme, die in mir sprach und die ich als inneren Dialog wahrnahm, als sie die Beweggründe meiner Denkmuster kritisierte: „Auch jetzt versuchst du, über deine Krise intellektuell zu debattieren, aber nicht, um deine Ziele zu verändern, sondern nur, um deine Lage zu verdrängen. Wie solltest du da je zur Einsicht gelangen, es sei denn…“, sagte sie, einen Sekundenbruchteil innehaltend, um mir die Gelegenheit zu geben, ihr beizustimmen und mich nach einem möglichen Ausweg zu erkunden, was ich auch sofort mit der Frage tat: „Es sei denn was?“

       „Es sei denn, du ließest dich bedingungslos in deine innere Hölle hineinfallen“, antwortete die Stimme und machte wieder eine kleine Pause, um diese abschließende Botschaft gewissermaßen in mich einsinken zu lassen: „In deinen Ängsten drückt sich eigentlich nur die Tatsache aus, daß du die Erkenntnisse deiner Sinnlosigkeit nicht als Befreiung von den gesellschaftlichen Mustern, sondern als unzulässige Abweichung von den sozialen Abläufen und damit als Schuld erfährst. Der Wille zur Genesung kann also nicht bedeuten, den Lebenssinn zurückzuholen, sondern ihn für immer zu verlassen.“

       „Wie?“ entschlüpfte mir die Frage, denn irgendwie ahnte ich schon, daß die Stimme recht hatte. Die Frage war nur: Wie? Wie sollte das geschehen?

       „Zum Beispiel, indem du der Hölle ins Auge siehst!“ orgelte es in meinem Inneren.

       Meine innere Stimme wollte mich wohl veralbern: „Hast du keinen originelleren Ratschlag für mich?“ fragte ich.

       „Erst wenn dein Ego an der Pein seiner verdrängten Erinnerungen zerschellt“, dröhnte sie, „werden alle deine unterdrückten Persönlichkeitsanteile aus den Umklammerungen des unterdrückenden Denkens wieder frei und du kannst alles sein, was du sein möchtest. Vieles ist in dir, du brauchst es nur zu wollen. Sieh jetzt durchs Fenster!“

       Ich starrte durch das Fenster in die Sonne, und von einer Sekunde zur anderen entzündete sich mit ungeheurer Kraft ein Feuerwerk von Visionen in meinem Kopf. Es war, als ob die mir bekannte Realität zusammenbrach, denn inmitten der Flammen sah ich ein seltsames Antlitz aufleuchten, als hätten sich sämtliche Poren seiner Haut in Licht verwandelt. Zudem erblickte ich darin mein eigenes Gesicht: mitten im Zimmer, in dem ich mich befand, und das Fenster war mein Augenlicht! Das also war der Blick, der sich ins eigene Auge sah, und in meinem eigenen Auge sah ich die Sonne aufgehen und mitten darin Akron, mein Alter ego, glühen. Dann materialisierte sich vor mir die Schwingungsenergie, die ich plötzlich sehen konnte, und eine weiße Lichtaura zog mich an. Ich spürte, wie meine Wirbelsäule in rasende Vibrationen geriet. Irgendwie fühlte ich mich auf einmal in zwei Teile gespalten, denn ich spürte, wie ich an meinem Arbeitsplatz saß und die Ideen in die Tasten hämmerte, die mir durch den Kopf blitzten, und gleichzeitig nahm ich die luziden Wände meiner Geschichte als Spiegelrahmen einer mir unsichtbaren Welt wahr, in der ich meinem Seelenführer begegnete, irgendwo zwischen Himmel und Erde. Sanft faßte er mich bei der Hand und sprach: „Was weißt du von der Wirklichkeit, die dich umgibt?“ Eine himmlische Gestalt in einem dunkelblauen Mantel stand vor mir und blickte mich unter ihrer Kapuze freundlich an. Die funkelnden Augen leuchteten in ihrem rötlichen Glanz aus der Tiefe der Finsternis hervor und ließen mich am ganzen Körper erzittern.

       „Genug, um immer wieder ins Loch meiner Depressionen zu fallen“, stammelte ich sichtlich aufgeregt.

      „Komm mit! Ich führe dich zur Tür…“ Und aus der Sonne brach ein glänzender Lichtstrom hervor und fiel auf „Dantes Inferno“ im Regal an der Wand, das wie ein magisches Fenster zwischen vielen anderen Büchern stand. Als ich gebannt hinsah, hatte ich das merkwürdige Gefühl, als ob sich eine dreidimensionale Projektion auf dem Buchrücken abzeichnete mit einem irisierenden Leuchten an den Kanten der Ränder, in denen ich plötzlich so etwas wie einen in ein Dreieck eingedrehten Kreis zu erkennen glaubte. Der Kreis begann sich im Dreieck zu drehen und schimmerte wie ein virtuelles Auge. Auf komplexe Weise verknäult und verknotet, stülpte sich das Bild langsam vor meinem Gesichtsfeld um, so daß sich das Innere nach außen wand, und auf einmal hatte ich den Eindruck, daß das Auge ein inneres Loch war, das mich ansaugte. Eine Sekunde lang glaubte ich, es wäre mein eigener Blick, als ich mich selbst auf mich zufliegen sah, meine persönliche Perspektive, die sich zu einem riesigen Auge ausgerollt hatte. Ich empfand eine Art Einladung, einen leichten Sog, und dann hatte ich das seltsame Gespür, als ob ein Teil von mir selbst das Auge war, das durch sich selbst hindurchsah. Blitzschnell erhob ich mich, mehr von der Aussicht beflügelt, etwas verpassen zu können, das bis jetzt nur in meiner Phantasie bestand, als vom Wunsch angetrieben, mich in neue Abenteuer zu stürzen. Ich zog das Buch aus dem Regal und schlug es auf, und da verfing sich mein Blick auch sofort in der flammenden Widmung, die auf der Innenseite prangte:

       „Das Auge der Hölle leuchtet aus dem Blick der Erkenntnis!“

       Ich ließ das Buch sinken und spürte gleichzeitig einen heftigen Schlag, und mit einem dumpfen Knall fiel der „Dante“ aus meinem Bücherregal auf den Boden und ließ ein Stück Sternenhimmel dahinter erscheinen. Ich schaute auf, und mit einem Mal wurde ich mir eines Porträts gewahr, das in der Nische eingelassen war, und zwar so, daß man es nur sah, wenn man einen der Riesenwälzer aus dem Regal herausgenommen hatte. Es mußte sich um ein Ahnenporträt handeln, auch wenn es mir seltsam vorkam, daß es so versteckt hinter den Büchern war und nicht wie die anderen Porträts in der Familiengalerie hing. Der Glanz der Abendsonne brachte das Bild dabei wunderbar zum Ausdruck. Es stellte einen Mann unter einer mächtigen Kapuze dar, dessen Gesicht verdeckt im Schatten lag; nur die roten Augen funkelten hervor. Das Gesicht war mir sehr vertraut und irgendwie schienen mir auch seine Augen zu antworten, denn einen Moment hatte ich das komische Gefühl, als blinzelten sie mich an: „Erkennst du mich?“ hörte ich eine Stimme. „Weißt du, wer ich bin?“

       „Wo sind wir hier?“ brach es statt einer Antwort aus mir heraus. Meine Persönlichkeitsstruktur sammelte sich in einer weichen, wabbeligen Hirnmasse, und ich bemerkte, wie fremde Gedanken durch mich hindurch zu wirken begannen.

       „Gleich wirst du dich wieder erinnern, allmählich wirst du den Standpunkt verstehen, den du in diesem Buch einnimmst…“ Zuerst kroch mir eine lähmende Kälte in den Rücken und dann spürte ich einen eisigen Atem im Genick. Erschrocken drehte ich mich um und entdeckte eine dunkle, gesichtslose Gestalt hinter meinem Sessel. Sie machte mir Angst, und auf meine unausgesprochene Frage, was sie denn hier zu suchen habe, antwortete sie ebenso lautlos: „Auch wenn es unmöglich ist, mich zu erfassen, weil ich mehr bin, als du je sehen wirst, mehr, als du begreifen kannst, bin ich trotz allem auch ein Teil von dir. Mein Name ist NIEMAND. Ich bin der Wächter an der Schwelle und erscheine jedem


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