Stein mit Hörnern. Liselotte Welskopf-Henrich
Es konnte sein, dass Mary zwei oder drei Tage auf der Ranch der jungen Leute verweilte.
Telefon von Ranch zu Ranch gab es nicht.
Queenie sorgte für Marys Kind und für ihre eigenen Kinder. Da die Muttermilch nicht reichte, fütterte sie Kindernahrung dazu, die sie in dem Selbstbedienungsladen der Agentursiedlung erhielt. Die Kassiererin quittierte freundlich. Mrs King bestätigte sich als eine fortschrittlich denkende Indianermutter.
Von Tag zu Tag erholte sich Queenie und konnte die beiden Kinder wieder ausreichend stillen. Sie hatte mit Hilfe von Marys Ersparnissen zwei Raten der Schuldentilgung und die Kosten des laufenden Monats bezahlt. Sie hatte Nachricht erhalten, dass Interessenten für das Bild »Leben hinter Glas« vorhanden seien. Der Druck war von ihr abgefallen, alle ihre Nerven arbeiteten frischer. Robert Yellow Cloud kam auf die Ranch zurück. Er war misslaunig und konnte nicht damit zurechtkommen, dass er nun als ein Vorbestrafter galt. Auch dass er sich in dieser Hinsicht mit Joe in guter Gesellschaft befand, beruhigte ihn nicht. Er war ungerecht verurteilt worden. Der kleine Polizist war ein Dickhornschaf, und ein Sidney Bighorn hatte nicht auf der King-Ranch herumzuschnüffeln. Warum kamen Leute ins Gefängnis, die Schlangen verjagten? Warum verurteilten Indianer Indianer?
Queenie fühlte die aufsässige Stimmung Roberts wohl. Sie sagte nicht viel. Sie hoffte, dass er bei der Arbeit auf der Ranch in seinen täglichen Pflichten bald wieder vernünftig werden würde.
Was Queenie vernünftig nannte, unterschied sich von dem, was Robert vernünftig schien. Solche Unterscheidungen kannte Queenie. Schließlich hatte sie einen Joe King geheiratet. Sie hielt ihr Zutrauen zu Robert aufrecht. Er war ihre einzige Hilfe auf der Ranch.
Der Bursche hatte bei den Schweinen, den Rindern und als ehrenamtlicher Helfer auch auf der Schulranch viel zu tun. Doch drängte es ihn zu den Büffeln, und als Mary am vierten Tage nicht zurückgekommen war, beschloss er, auf die Büffelweide zu reiten und von dort zu Bob und Melitta, um Mary zu treffen. Frank Morning Star hatte sich bereiterklärt, den Stier zu erschießen. Frank wollte Bescheid haben, wann er kommen könne. Mary Booth musste sprechen.
Robert war es, der die blutigen Reste von Mary und ihrem Pferd fand. Das Blut und das Fleisch stanken schon, und Schwärme von Fliegen saßen daran.
Robert hielt an und stieg ab.
Er stand da, allein, und es graute ihm vor dem, was er sah. Aber er kam nicht davon los.
Es dauerte lange, bis er das Jagdgewehr, das Mary entfallen war, an sich nahm. Er untersuchte es. Zwei Schuss waren abgegeben. Sie hatte sich wehren wollen.
Robert schloss die Augen, nahm die Hand vor den Mund und betete zu Wakantanka, dem Gott der Indianer.
Er war zwanzig Jahre alt. Er hatte die Mutter sterben sehen, und er hatte seine drei Geschwister sterben sehen. Viele Indianerkinder starben früh. Der Vater war im Krieg gefallen. Robert kannte den Schmerz, der die Eingeweide des Menschen in seine Faust nimmt und sie zusammendrückt, dass der Atem vergeht. Der Hass stand zum ersten Mal in ihm auf.
Was hier geschehen war, das war Mord. Die Mörder waren die, die Robert eingekerkert hatten und die auf ihren Stühlen an den Tischen saßen und Briefe schrieben, ehe ein Büffelstier erschossen werden durfte.
Robert beschloss, Mary Booth zu rächen.
Noch brauchte niemand zu wissen, was Robert sich geschworen hatte. Ein Indianer hatte Zeit. Aber ein Indianer vergaß nie.
Sidney Bighorn musste eines Tages sterben.
Der Entschluss machte Robert ruhig.
Er schnallte die Decke ab, die ihm ohne Steigbügel als Sattel gedient hatte, und deckte die Tote zu. Er nahm ihr Gewehr mit, ihren Treibstock und ihr Lasso. So machte er sich auf den Rückweg zu der King-Ranch. Er hatte gesehen, dass die Büffel in der Ferne friedlich weideten. Am nächsten Tag konnte Frank Morning Star kommen und den Stier abschießen.
Zu der Beerdigung von Miss Mary Booth, Mitglied des Stammesrats, Rancherin, Lehrkraft der Schulranch, kamen viele Leute. Der zerschundene Körper lag in einem Sarg, der die Menschen vor dem Entsetzen abschirmte.
Vater, Mutter und Geschwister Marys, die außerhalb der Reservation auf freien Ranches lebten, kamen. Sie hörten die Grabrede und den Segen, die der alte Pfarrer der Agenturkirche sprach, und interessierten sich für die Hinterlassenschaft. Queenie war da mit ihren beiden Pflegesöhnen und den Zwillingen. Die Kleinsten hütete Robert in der Blockhütte. Als er gehört hatte, dass auch ein Vertreter der Agenturverwaltung erwartet werde, hatte er sich geweigert, mit an das Grab zu kommen. Vater und Mutter Halkett, die Eltern Queenies, und ihre Geschwister hatten den weiten Weg gemacht. Mr und Mrs Whirlwind fehlten nicht, Frank Morning Star, der stellvertretende Häuptling mit den übrigen Ausschussmitgliedern des Stammesrats, die Lehrlinge, Yvonne, die die Schwägerin Frank Morning Stars geworden war, gehörten zu dem Freundeskreis; auch die ehemaligen Lehrlinge der Schulranch kamen. Mrs Carson hatte den Auftrag erhalten, die Verwaltung zu vertreten, und sie hatte Mr Sligh überredet, sich mit ihr eine indianische Beerdigung anzusehen. Als sich die Nachricht hiervon verbreitet hatte, machten sich auch Barn und Walker auf. Sie begrüßten unter den Trauergästen Margot Crazy Eagle und ihren blinden Mann.
Es erschienen noch viele Menschen, alte und junge, die sonst nie auf der King-Ranch und auf der Booth-Ranch gesehen wurden. Mary Booth wurde geehrt. Würdig wurden ihre blutigen Reste zu Grabe getragen, und nun lag sie in der Erde neben ihrem Bruder, der ein Lügner und Dieb gewesen war und den Queenie King erschossen hatte.
Die Würmer und die Erde machten keinen Unterschied. Sie verzehrten und vernichteten alles, und alles wurde wieder neu, wenn die Gräser wuchsen und die Blumen wurzelten.
Als der Mond aufging, lagen die Gräber einsam.
Am Grab von Mary Booth aber saß Queenie Tashina King und weinte. Es schüttelte sie, und sie schluchzte erbärmlich. Sie weinte über alles, was sie Mary Booth im Leben nicht zugute getan hatte, und sie weinte, weil sie einsam und verlassen war. Ihr Pflegesohn Wakiya-knaskiya – Geheimnisträchtiger Donner –, lang gewachsen, in dreizehn Jahren seiner Kindheit älter geworden, als die Zahl der Jahre sagte, kam langsam zum Friedhof herbei und blieb für sich allein an dem Grabe des alten Häuptlings Inya-he-yukan stehen, der hier seine Ruhestatt gefunden hatte. Als er aber sah, dass Tashina sich nach ihm umwandte, ging er zu ihr hin und setzte sich zu ihr. Der Mond schien über den weißen Felsen. Früher hatten zu Füßen der Berge die Büffel geweidet. Sie weideten dort nicht mehr. Die Fenster des Hauses, das Mary Booth bewohnt hatte, schimmerten dunkel. Es war verlassen.
Im Wohnhaus der Schulranch blieb es still und finster. Keiner der Schüler wusste, was nun aus ihm werden sollte. Joe King war gelähmt. Mary Booth war tot.
»Mutter Tashina!«
»Wakiya-knaskiya, unser Sohn.«
Das war alles, was die beiden an dem Grabe von Mary Booth miteinander sprachen. Tashina erhob sich. Ihre Augen waren trocken geworden und taten weh. Sie ging mit Wakiya zu der Hütte, wo der Junge mit seinem Bruder Hanska und mit Robert zusammen schlief. Queenie ging weiter, in das neue Haus, in dem ihre Zwillinge, das Jüngstgeborene und nun auch Marys Kind aufwuchsen. Sie stillte die Säuglinge und legte sich schlafen. An Joe hatte sie geschrieben. Er sollte das Unglück von keinem anderen früher erfahren als von ihr.
Der Patient
Der Patient Joe King bewies eine von Ärzten und Pflegepersonal bewunderte, für alle aber ebenso fremdartige Geduld. Gleich weit entfernt von Langeweile oder Angeregtsein, von Wohlgefühl oder Missbehagen, schien sein Geist den Körper verlassen zu haben und die Gestalt, die im Bett lag, nur von fern zu betrachten. Wurde King nach seinem Befinden befragt, so antwortete er sachlich und genau und hatte sich selbst offenbar immer mit großer Aufmerksamkeit beobachtet. Doch klagte er nie, nahm alles, was ihm angeboten wurde, als richtig an, wobei im Grunde niemand zweifelte, dass er das Entgegengesetzte ebensowohl als geeignet anerkannt hätte. Er äußerte Wünsche, wenn dies gewünscht wurde. Ganz im Unterschied zu dem, was meist über Indianer erzählt wurde, hatte er sich den amerikanischen Grundsatz keep smiling in ausreichendem Maße zu eigen gemacht,