Die Kolonie Tongalen. Chris Vandoni
ließ sich ins Wasser gleiten und schwamm ihr hinterher.
Er tauchte unter und versuchte, ihren Fuß zu erwischen. Aber das gestaltete sich schwieriger, als er erwartet hatte. Sie war wendig und beweglich und entzog sich immer wieder seinem Griff.
Als er wieder auftauchte, versuchte er herauszufinden, wo sie sich ungefähr befand. Aber er konnte sie nicht ausmachen. Doch dann sah er einen hellen Fleck im Wasser und vermutete, es könnte sich dabei um ihr Top handeln.
Sofort kraulte er in diese Richtung und rechnete damit, dass sie demnächst Luft holen musste.
Aber es dauerte noch einige Sekunden, bis ihr Kopf endlich aus dem Wasser auftauchte und sie prustend nach Luft schnappte.
»Du bist ganz schön schnell«, attestierte er ihr. »Warst du mal Sportschwimmerin?«
»Nein. Aber ich habe mich früher anderweitig körperlich betätigt.«
»Und was war das?«
»Tanzen.« Ihr Brustkorb hob und senkte sich vom heftigen Atmen. »Ballett und Jazztanz.«
»Ich hatte mal eine Freundin, die auch Jazztanz gemacht hat.«
»Was ist aus ihr geworden?«
»Wir haben uns auseinandergelebt.«
»So was soll vorkommen. Ist dann besser, wenn man sich trennt.«
»Ja, das haben wir auch getan.«
Eine Weile sagten sie nichts. Doch dann fragte er: »Tanzt du immer noch?«
»Nein, seit einigen Jahren nicht mehr. Ich habe mich mal verletzt und danach den Anschluss verloren. Irgendwie war ich nicht mehr motiviert genug, wieder ganz von vorne anzufangen.«
»Man muss im Leben auf vieles verzichten, wenn man sich ganz einer Sache verschreibt.«
»So ist es.«
»Man braucht auch eine gewisse Unterstützung von Angehörigen, die einen immer wieder aufbaut und motiviert, wenn es mal nicht so rund läuft oder eben, wenn man verletzt ist.«
»Du scheinst aus eigener Erfahrung zu sprechen.«
»In meiner Kindheit und Jugendzeit hat mir genau diese Unterstützung gefehlt. Ich war meist auf mich allein gestellt.«
»Und deine Eltern? Über deine Jobs und deine Hobbys weiß ich ja ziemlich viel, aber du hast mir nie etwas über deine Familie erzählt.«
Als Christopher nicht sofort antwortete und sich stattdessen auf dem Rücken ins Wasser gleiten ließ, sagte Michelle: »Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten.«
»Schon gut, hast du nicht. Es gibt eben Dinge, an die man sich weniger gern erinnert.«
»Kann ich gut verstehen.« Michelle schwamm langsam neben ihm her.
»Meinen richtigen Vater hab ich nie kennengelernt. Er hat sich aus dem Staub gemacht, als meine Mutter in jungen Jahren schwanger wurde. Mit meinem Stiefvater hatte ich während meiner Kindheit praktisch nur Zoff. Zudem waren meine Mutter und er so mit ihren Problemen beschäftigt, dass meine und meines Bruders Anliegen einfach zu kurz kamen.«
»Hast du noch mehr Geschwister?« Michelle sah ihn von der Seite an.
»Eine jüngere Schwester. Eigentlich sind beide meine Halbgeschwister. Sie stammen von meinem Stiefvater. Meine Schwester ist so was wie ein Versöhnungskind. Nachdem meine Mutter und ihr Mann sich jahrelang gestritten hatten, gab’s irgendwann mal eine große Aussprache, und sie entschlossen sich, noch mal von vorne zu beginnen.«
»Hat das was gebracht?«
»Hm, eigentlich nicht viel. Für kurze Zeit vielleicht.«
»Eine intakte Familie ist viel wert.«
»Du sagst es.« Christopher ließ sich für einen kurzen Moment im Wasser treiben. »Ich hab rund um mich herum unter meinen Schulfreunden erlebt, wie ein Familienleben sein kann, was es heißt, von Eltern und Geschwistern Sicherheit und Halt zu bekommen.«
»Aber du hast es nicht bekommen.«
»Eigentlich nicht so, wie es hätte sein sollen. Wenn ich heute zurückblicke, so merke ich, wie mir damals als Junge der Halt und die Unterstützung der Eltern fehlte. Wenn ich beispielsweise mit anderen Kindern und deren Eltern Ärger hatte, konnte ich sicher sein, dass ich von meinen Eltern auch noch zusammengestaucht wurde. Für sie waren immer die anderen im Recht, nur nicht die eigenen Kinder.«
»Das hab ich ganz anders erlebt. Meine Eltern standen in erster Linie hinter den eigenen Kindern, klärten die Situation ab, und dann wurde darüber diskutiert. Aber nicht einfach generell für die anderen Partei ergreifen.«
»So war es bei uns. Zudem wurde mein Halbbruder von meinem Stiefvater meist bevorzugt. Der merkte das sehr schnell und nutzte es oft aus.«
»Kinder sind schlau und manchmal sogar ziemlich unbarmherzig.«
»Das kannst du laut sagen.«
»Hat sich das irgendwann geändert?«
»Als wir alle drei erwachsen waren, hat sich meine Mutter von ihrem Mann getrennt. Für ihn brach eine Welt zusammen. Er veränderte sich total. Vorher ein rechthaberischer, aufbrausender Tyrann, nach der Trennung ein in sich gekehrter, verbitterter, alter Mann.«
»Plötzlich merkt man, was man verloren hat.«
»Weißt du, was das Eigenartigste war?« Christopher richtete sich auf und blickte zu Michelle. »Bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr hatten wir uns gegenseitig bekriegt. Nachdem meine Mutter sich von ihm getrennt hatte, wurden er und ich gute Freunde. Wenn ich bei ihm aufkreuzte, hat er fast geweint vor Freude. Er war so einsam und dann so glücklich, wenn ihn jemand besuchte.«
»Hast du noch Kontakt mit ihm?«
»Er ist vor vielen Jahren gestorben.«
»Oh. Und deine Mutter?«
»Sie hat seit einigen Jahren einen anderen Lebenspartner, interessiert sich aber kaum für mich.«
»Und für deine Geschwister?«
»Na ja, für sie vielleicht etwas mehr. Aber der Grund liegt wahrscheinlich darin, dass sie Kinder haben und sie somit deren Großmutter ist.«
»Aber sie wird sich doch wohl nicht deswegen so wenig für dich interessieren, weil du ihr keine Enkel geschenkt hast?«
»Weiß ich nicht. Könnte sein, dass sie auch für meine Geschwister weniger Interesse zeigen würde, wenn sie keine Kinder hätten.«
»Vielleicht.«
Eine Weile schwammen sie schweigend nebeneinander her, bevor Christopher fortfuhr: »Sie hat in den letzten Jahren, als ich noch etwas mehr Kontakt mit ihr hatte, ab und zu durch die Blume erwähnt, dass sie ein hartes Leben gehabt hatte und jetzt ihre Ruhe haben möchte. Anders ausgedrückt hätte sie genauso gut sagen können: Ich habe euch aufgezogen, und jetzt lasst mich mein Leben leben. Sie hat sich nie dafür interessiert, was ich mache, wo ich arbeite, wohin ich unterwegs war oder was mir Sorgen bereitete. Anfangs hatte ich noch Versuche unternommen, ihr meine Probleme zu schildern.«
»Ich nehme an, sie hat sich nicht groß dafür interessiert.«
»Nein. Wenn sie doch mal etwas dazu sagte, dann waren es eher Vorwürfe, ich würde dies und jenes falsch machen, und ich sei für meine Situation selbst schuld. Von irgendeiner Aufmunterung oder einem guten Ratschlag keine Spur.«
»War halt bequemer, die Schuld einfach auf dich abzuschieben, statt sich mit dem Problem auseinanderzusetzen.«
»Wahrscheinlich war es so. Keine Unterstützung, wenn ich Hilfe benötigt hätte, keine Anerkennung für etwas Vollbrachtes, auf das ich selbst stolz war. Einfach nichts dergleichen.«
»So was macht mich echt traurig«, sagte Michelle betrübt. »Aber es zeigt mir einmal mehr, dass ein intaktes Familienleben nicht selbstverständlich ist. Auf diese