Im Schatten der Hundstage. Thomas Christen

Im Schatten der Hundstage - Thomas Christen


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im letzten Jahr.“ Damals war es nicht seine Schuld gewesen.

      Er hörte, wie das Klappern des Geschirrs verstummte. Er spürte ihren Blick in seinem Rücken und sah die winzig kleinen Veränderungen, die über ihr Gesicht zogen vor sich auf der dunklen Scheibe. Sie richtete sich auf, und für einen Augenblick lag ihr Spiegelbild genau vor dem kaum noch zu erkennenden Kraftwerk. Unwillkürlich erschrak er, wischte mit einer Hand über die Tasche seines Jacketts und betrachtete die Fensterbank. Sie tat es nicht bewusst. Es war ein Reflex. Ein ihrem Körper eingebranntes Muster, das immer dasselbe Verhalten abrief, wenn er ihr eine schlechte Nachricht überbrachte. Sie griff sich an ihren Haarknoten, ihre Augen weiteten sich einen Moment, und dann sah sie ihn mit diesem Blick an, den er nicht ertragen konnte und in dem sich dieser grauenvolle Kampf von Mitleid für ihn und eigener Schuld spiegelten.

      Und am Ende würde sie sich die Hand auf ihren verstümmelten Unterkiefer legen, hilflos diesen Krater bedecken, als wolle sie dieses abstoßende Nichts endgültig vor den Augen der Welt verstecken.

      Manchmal, im Winter, wenn sie abends las, er die Zeitung überflog, wenn sie sich gemeinsam etwas im Fernsehen anschauten, oder wenn sie eine Partie Scrabble spielten, trug sie ihren wollenen Rollkragenpullover an dem sie den Kragen dann immer bis zur Nase hochzog. Er mochte das Spiel nicht, denn ihm fielen nie die passenden Wörter ein. Aber manchmal tat er ihr den Gefallen, denn er würde nie vergessen, wie sie ihm damals nach einem beendeten Spiel, kurz nachdem es passiert war, einen Zettel zugeschoben hatte: Ich kann die Worte nicht mehr zum Klingen bringen. Aber wir können sie noch sehen! Er hatte ihr vorgelogen, draußen noch etwas richten zu müssen. Aber wahrscheinlich hatte sie gewusst, dass er nur mit seiner Übelkeit und den aufkommenden Tränen allein sein wollte.

      Man hatte ihr nahezu den gesamten rechten Unterkiefer und weite Teile der Zunge entfernt, und sie hatten jeden Tag gebetet, dass sich keine Metastasen gebildet hatten. Damals war die Stille bei ihnen eingezogen. Heute betete nur noch sie. Manchmal, wenn sie glaubte, dass er es nicht bemerke. Ihm fielen keine Worte mehr ein. Nicht einmal die wenigen, mit denen er bisher vertraut gewesen war. Damals hatte niemand im Dorf ausgesprochen, was die meisten dachten. Aber es sprach auch so gut wie keiner mehr über das Werk. Ellen Campden und Lis Brown hatten kurz darauf gekündigt. Seit einem Jahr fuhren sie jeden Tag fast eine Stunde zu ihrer neuen Arbeitsstelle. Die Mädchen waren noch jung. John Dickens war vor Monaten an Krebs gestorben. Seine Frau versuchte noch immer, den Hof zu verkaufen. Und jeder hier wusste, dass der ein oder andere manchmal zu viel trank, rauchte, oder irgendetwas verheimlichte, über das er mit seinem Arzt nur hinter verschlossener Türe sprach. Sie hatte auch geraucht. Was für Möglichkeiten hätten sie denn gehabt?

      Er drehte sich langsam vom Fenster fort und sah sie immer noch reglos, eine Tasse in der Hand haltend, vor dem Tisch stehen. Ihr Blick ruhte einen Moment lang auf seinem geschwollenen Daumen, aber sie wusste, dass er das nicht mochte und drehte den Kopf zur Seite. Ihre Hand stellte wie schlafwandelnd die Tasse auf dem Wachstuch ab, und dann heftete sie ihren Blick auf das Radio, das auf der Anrichte stand und aus dem noch immer leise Musik erklang.

      In diesem Augenblick wusste er, was es war. Irgendetwas ist anders, nicht wahr? Er hatte es schon beim Hereinkommen gespürt. Es klang so fremd. So unpassend und falsch. Keine kleinen, banalen Volkslieder, die sie auf diesem Sender manchmal gerne hörte und die nach ein paar Minuten von einer Frauenstimme unterbrochen wurden, die ein neues Rezept zum Besten gab oder Gesundheitstipps anbot. Niemand, der Nachrichten sprach oder den Wetterbericht vorlas. Kein Hinweis auf aktuelle Veranstaltungen in der Stadt. Nichts, was er mit diesem Radio und diesem Sender jemals in Verbindung gebracht hätte. Nur diese brüchige, unendlich traurige Männerstimme und ein Orchester, die wieder und wieder die gleiche Phrase, die gleiche Sequenz wiederholten, eine Schallplatte auf der ein majestätisches klassisches Werk erklingt und bei der die Nadel an einem Kratzer immer wieder dieselbe Stelle abspielt. Nur, dass er spürte, dass das, was sie hier hörten nicht auf einen technischen Fehler zurückzuführen war. Irgendetwas war anders. Das Orchester spielte nicht immer nur das gleiche. Instrumente kamen hinzu und verebbten. Wie eine Welle, die wächst und langsam auf den Strand zurollt. Nur dieser seltsame alte Sänger sang in einer endlosen Schleife immer wieder die gleichen Sätze.

      Er merkte, wie sich sein Magen verkrampfte, wie ihm ein hauchdünner Schweißfilm auf die Stirn trat und er das kurze Gefühl hatte, als sei an einem Winterabend ein Fenster aufgeschlagen worden.

      Er verstand nichts von Musik. In seinem ganzen Leben war er nie etwas anderes als ein einfacher Mann gewesen, der seiner Arbeit nachgeht. Und in diesem Augenblick fühlte er, dass etwas in ihm aufstieg, an das er sich kaum noch erinnern konnte, etwas, das er seit Jahren nicht mehr empfunden hatte und das er nicht bereit war zu akzeptieren: Furcht. Diese Musik war falsch an diesem Ort. Sie war – beklemmend – und dennoch wunderbar, großartig, erhaben. Vor allem war sie – auf eine Art – endgültig!

       Jesus’ blood never failed me yet …

      Er wischte sich eine Hand am Ärmel ab und suchte ihren Blick.

      „Seit wann wird das gespielt?“, fragte er sie und sah, dass sie zitterte und dort stand, als sei sie mit dem Dielenboden verwachsen. Ihre Augen hatten zu schwimmen begonnen. Sie zuckte mit den Schultern, und dann zeigte sie ihm zweimal alle zehn Finger ihrer beiden Hände.

      „Zwanzig Minuten …“, antwortete er tonlos. Sie nickte, deutete stumm ein ungefähr an und hielt noch einmal zaghaft fünf Finger einer Hand in die Höhe.

      Sie standen in der Küche und sahen sich an, als wollten sie ihre Gedanken miteinander verschmelzen, als schienen unsichtbare elektrische Entladungen blitzartig von Augenpaar zu Augenpaar zu jagen. Was war das, das er nicht sehen konnte und das plötzlich wie ein Pesthauch in diesem Zimmer hing. Das er nicht fassen konnte, das aber da war, wie giftiger Rauch aus diesem Radio quoll und angefangen hatte ihm die Luft zu nehmen. Er ging in Richtung Anrichte und hatte schon den Arm gehoben, um das Gerät auszuschalten, diese fremde Musik abzustellen, als er sie neben sich hörte.

      „... Mmmh – nnh, nnh!“ Als er sie ansah, schüttelte sie heftig den Kopf, machte einen Schritt auf ihn zu und legte ihre Hand auf seinen Arm. Ratlos sah er sie an, wie sie sich verschämt die Tränen aus den Augen wischte und dann fortfuhr den Tisch zu decken.

      „Haben sie irgendetwas in den Nachrichten gebracht? Ist etwas passiert?“, fragte er sie und musste in diesem Augenblick wie von weither gerufen zum Fenster schauen. Er zwang seinen Blick von den Scheiben fort und beobachtete sie, wie sie vorsichtig um den Tisch ging, das Besteck verteilte und zu versuchen schien möglichst leise dabei zu sein. Als wollte sie keinen einzigen Ton versäumen. Abermals bedeutete sie ihm mit einem Kopfschütteln und kurzem Schulterzucken, dass sie es nicht wusste.

       Jesus’ blood never failed me yet, never failed me …

      Das Stück hatte sich unmerklich verändert. Ein zweiter Sänger war hinzugekommen. So zerbrechlich die Stimme des ersten Mannes bisher gewesen war, so rau, grob und polternd klang die des anderen. Blasinstrumente. Ein Chor? Warm klingende tiefe Streicher. Und wieder und wieder und immer wieder die gleichen Sätze. Etwas, das sich im Kreise drehte und größer und größer zu werden schien, alles umschlang, unendlichen Trost spendete und - heilte. Er tadelte sich wortlos, ballte die Faust, aber seine Unsicherheit verschwand nicht. Wie kam er auf so etwas? Warum dachte er solche Worte? Warum fühlte er … Jacob hätte ihm etwas gesagt. Er verspürte keinerlei Appetit mehr, aber ließ sie gewähren.

      Seit Jahren nannten alle das Kraftwerk nur den Meiler. Wann hatte er es in der Zeitung gelesen? Dass man ihn ein paar Tage, wie sie es nannten, heruntergefahren hatte. Wegen Kontrollarbeiten. Der Vorgang bedeute keinerlei Gefahr für die Umwelt. Routinearbeiten.

       Jesus’ blood never failed me yet, never failed me, Jesus’ blood …

      Sie hatte angefangen Äpfel zu schälen und legte die Schnitze in ein Glasschälchen.

       ... never failed me yet, Jesus’ blood …

      Sein Atem ging schwerer. Er bemerkte es erst, als er sah, dass sie dort stand und ihn beobachtete. Dann bedeutete sie ihm mit einer Handbewegung, dass er sich setzten könne.


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