Im Schatten der Hundstage. Thomas Christen

Im Schatten der Hundstage - Thomas Christen


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      Er ließ den Satz unvollendet. Dann ging er langsam an ihr vorbei, verließ die Küche und öffnete die Haustüre. Der Tag war gegangen. Grau, dunkel violett und fast schwarz lag die Heide dort draußen. Man erkannte nicht mehr viel. Nur die ersten Sterne waren zu sehen. Er setzte sich auf die Bank. Planta …, Plant – das Wort fiel ihm nicht mehr ein. Ihre Nichte hatte ihm einmal während eines Besuches erzählt, dass der Ginster vor langer Zeit das Wappen eines englischen Königsgeschlechts geziert hatte. Sie war ein gutes Mädchen. Klug und auf ihre Art und Weise sogar hübsch. Sie liebte ihre Nichte über alles. Waren die Schafe irgendwo da draußen? Hatte sie jemand gefunden? Würden sie morgen noch einmal losgehen, um sie zu suchen? Leise drang die um sich selber kreisende Musik aus dem Flur. Wieder und wieder. Immer dasselbe. Und doch jedes Mal ein klein wenig anders.

      Ihr Schatten erschien unter dem Türrahmen. Sie zögerte einen Augenblick, trat hinaus und setzte sich neben ihn. Und dann legte sie ihm eine Postkarte auf sein Knie und ihre Hand darauf, gerade so viel, dass sie nicht hinunter fallen und er das Motiv erkennen konnte. Auch diese Karte hatte ihnen vor Jahren ihre Nichte geschickt. Sie hing, mit einer Nadel festgesteckt an der Seite des Tellerregals. Und er hatte nichts von dem vergessen, was auf der Rückseite stand: … ich habe ein Bild von euch gefunden! Nein, seid mir nicht böse, es ist nur ein kleiner Spaß. Ihr würdet niemals so traurig schauen. Eure Annie.

      Und kleingedruckt, unten am Rand standen Wörter, die ihm nichts sagten. American Gothic/Grant Wood.

      Ihre Hand lag noch immer auf seinem Bein.

      Die Stimme im Radio hatte etwas erzählt.

      Ruhig und ergriffen.

      Die Musik hatte aufgehört.

       ... DENN ICH WACHE ÜBER EUCH

      Grün, orange, gelb, blau, braun, blau, braun, rosa, blau, rot, gelb … Becher … schief … Becher, becherschief, orange, grün, orange, gelb, weiß, rosa, blau, gelb, gelb, orange … Becher … Scheiße, Schokolade, Meer, Blut, Käse … Becher … Näher, näher, noch näher, langsam, ganz langsam, noch langsamer, sonst sehen sie es, Miller, rot, Edwards, gelb, Watson, rosa, das passt, das passt, das passt, das passt, Watson, das passt, das passt, scheiße, das passt, Gibbons, gelb, McCarthy, weiß, jetzt gleich, noch näher, Kirkpatrick, rot, rotrotrotrotrot …

      Seine rechte Hand schnellte hervor wie der Kopf einer zubeißenden Viper und riss die verschimmelte, braunfleckige Zahnbürste aus der Halterung. Meine, meine … meine-meine-meine. Der herausbrechende Haken hinterließ ein zersplittertes Loch im Holz des Regalbretts, und der sporfleckige Turm aus ineinandergesteckten Kunststoffbechern polterte zu Boden. Spielzeug, Spielzeug, Apfelsine, Wiese, Käse, Schnee. Langsam verebbte das Plastikgeklingel der uralten Zahnbürsten. Der Lärm versiegte. Sie hingen wieder gerade. Alles begrabende Stille. Nichts, absolut nichts, kein Ton, kein Luftzug war zu hören.

      Gerade, gelb, gerade, Johnson, gerade, dachte er, und dann starrte er minutenlang die rote Bürste in seiner Faust an. Er tippte mit dem Fuß an die auf dem Boden liegenden Becher. Sie rollten langsam in einem Halbkreis davon. Das leise, hohle Geräusch glich einem nicht enden wollenden Donner. Er sah einen Moment von der Zahnbürste auf und folgte den Plastikbechern mit den Augen. Dann bückte er sich, nahm den verdreckten kleinen Turm hoch, pulte sich den obersten Becher mit den Fingernägeln heraus und steckte ihn in die Tasche seines Kittels. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, wippte bei jedem Schritt leicht mit dem Oberkörper nach vorn und zurück und verließ den Raum. Er schaute nach links und rechts den Gang hinunter und entschied sich für die rechte Seite.

      „Gute Nacht!“, deklamierte er laut, nahm einen kurzen Anlauf und sprang über die beiden verschlissenen Matratzen, die vor ihm auf dem Boden lagen. Grünes Licht floss aus der nächsten Türe und ergoss sich auf den schartigen Holzfußboden des Flurs. Er blieb stehen und schloss die Augen. Das Bein gehoben! Hand an die Hosennaht! Reeechts um! Mit militärischer Steifheit machte sein Körper eine hölzerne Drehung, und dann betrat er den Waschraum.

      Zerrissene Dachpappe, Holzbretter, verbogene Rohrstücke und zerbröselter Schutt bedeckten den Boden. Hinter den beiden Fenstern an der Stirnseite des Zimmers standen alte Buchen und hatten ihre Zweige von außen an die Rahmen gelegt, als wollten sie anklopfen. Jeweils fünfzig gleich große Holzquadrate ohne den kleinsten Rest von sie ausfüllendem Glas siebten das hereinfallende Sonnenlicht. Er machte eine zweite Drehung und stieg wie ein aufgezogener Spielzeugsoldat über einen morschen Holzbalken. Durch die Löcher in der Decke fielen Efeuranken, krallten sich an die dort oben an der Wand verlaufenden Rohrleitungen und wuchsen die zerplatzten Fliesen herunter. Er öffnete umständlich seine Hose und pinkelte in das an der Wand hängende Pissoir. Leise prasselte der Urin auf die braun verwelkten Blätter. Edward, gelb, Gibbons, gelb, sagte er leise vor sich hin. Scheiße, braun. Er kicherte. Scheiße, braun. Er zog den Reißverschluss hoch und dreht sich um. Unter seinen Füßen knirschten Sand und zerkrümeltes Laub. Er studierte die vier gleich großen, schmalen Türen an der Gegenseite. Alle standen offen. Hinter dreien verlief ein schmaler Gang. Schwarzer, modernder Stauraum. Hinter der vierten Tür hingen zwei Regalbretter auf denen, ineinander verkeilt, verrostete Bettfedern lagen. Er fingerte eine der größeren Federn frei, drehte sie langsam hin und her und schob dann vorsichtig seinen linken Arm hindurch.

      Gladiator Kirkpatrick! Bereit in den Kampf zu ziehen, schworen seine Gedanken, und er umfasste die Feder und drehte sie sich über den Ärmel des Kittels.

      Er ging den Flur entlang, vorbei an den endlosen beiden Reihen von Türen und leeren Zimmern und zeigte jedes Mal mit einem seiner Zeigefinger nach links oder rechts.

      „Smith, du alter Stecher. Alles klar?“ Links. „Robinson, trink endlich deine Milch. Miller, hör auf zu wichsen, deine Birne ist schon ganz rot.“ Rechts.

      Wieder musste er kichern. Rot wie deine Zahnbürste, dachte er. Wieder rechts. „Donovan, schmink dir das lächerliche Grinsen vom Gesicht. Zu dir komme ich gleich noch. Keine Chance zu fliehen.“ Das Echo seiner Stimme wehte wie Nebel hinter ihm her und kroch in den Muff der toten Zimmer.

      Abrupt blieb er stehen, um dann langsam ein paar Schritte rückwärts zu machen. Die Farbe klebte in winzigen bunten Fetzen an der Wand. Das dorthin gemalte Bild war kaum noch zu erkennen. Wie aufgeplatzte und verkrustete Blattern klammerte sich der eingefärbte Putz an die Steine. Der Heiligenschein war nahezu völlig verblasst. Von dem Lamm am unteren Rand war nur noch der Kopf zu sehen, und die beiden kleinen Jungen, die dort auf einer angedeuteten Wiese knieten und diesen übergroßen Heiland anstarrten waren von Rissen und Löchern überzogen. In ein rosa wallendes Gewand gehüllt und die Arme zur Seite gestreckt stierte dieser Jesus in den Flur und grinste ein weibisches Lächeln.

      „Watson“, brüllte er, „Watson, du schwule Sau! Für eine Schwuchtel wie dich gibt es gleich wieder die kalte Dusche …“

      Er schrie die Sätze einfach vor sich in den Gang und marschierte weiter.

      „Dieses warme Geschmiere ist abartig, hörst du! Widerlich! Warum schneidest du ihn dir nicht einfach ab? Oder soll das jemand anderes für dich machen?! Scheiße, vergiss es. Den Spaß gönn ich dir nicht! Vergiss es einfach!“

      Am Ende des Flures ließ er sich auf einen grün bezogenen Bürostuhl fallen, rollte ein paar Meter über zerbrochene Glassplitter den Gang entlang und begann dann die leeren Lichthalterungen an der Decke zu studieren. Ganz schön hell, die Neonröhrchen, dachte er, schnitt eine Grimasse und ließ seine Augen über die Stromkabel fließen, bis er den Kopf tief in den Nacken legen musste. Langsam drückten seine Füße den Bürostuhl in die Mitte des Ganges. Die Halterung genau über seinem Kopf war an einer Seite aus der Decke gebrochen und zeigte wie ein entbeinter Blechfinger auf seine Brust, als wolle sie im nächsten Moment herabstürzen und ihn aufspießen.

      Er hob den Zeigefinger und tippte sich mindestens zwanzig Mal auf sein Brustbein.

      „Ich – ich – ich, ihr dümmlichen Weißkittel, ich bin hier der Chef“, flüsterte er. „Ihr seid bloß so porentief verblödet, dass ihr es noch nicht gemerkt habt.“

      Er


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