Im Schatten der Hundstage. Thomas Christen

Im Schatten der Hundstage - Thomas Christen


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in irgendeiner Ecke ihr letztes bisschen Verstand aus dem Schädel. Aber er würde nichts sagen. Er war ein gütiger Chef. Ein verständnisvoller Chef. Die Männer waren seine Freunde. Sie alle waren die Küchencrew. Die beste, die es auf diesem Scheißerdball gab. Er war für sie verantwortlich. Er, der unersetzbare Thomas Randolf Kirkpatrick. Chefkoch. Direktor. Schlüsselhalter. Und Freund. Ja – er würde schweigen. Und sie würden es ihm lohnen, ihm auf die Schulter klopfen und irgendwann mit ihm, eines fernen Tages, diese ganze verfluchte Stadt umkrempeln, säubern, auskehren und – heilen. Watson und seinesgleichen die Schwänze abschneiden. Die Teufel in ihren Käfigen verjagen und Schwester Mason lehren, auf ewige Sauberkeit zu achten.

      Seine Augen weiteten sich und plötzlich begann er wieder am ganzen Körper zu zittern.

      „Lissi?! Bist du es?! Lissi, du – du hier? Scheiße, großer, blinder Gott, wie bist du hier hereingekommen? Wie hast du es an Miller und den anderen vorbei geschafft? Du bist eine Frau? Eine Frau! Lissi, du bist – meine Frau! Meine liebe, gute, hübsche, zarte, schöne, schweigsame, wunderbare Lissi!“

      Er beugte sich vorsichtig vor und durchbohrte die Dunkelheit mit einem ängstlich fragenden Blick.

      „Du weinst? Du weinst, meine Liebe! Du darfst nicht weinen. Nein, ich erlaube nicht, dass du weinst! Warum weinst du denn …“, flüsterte er und drückte sich von der Matratze hoch. Und als die Antwort ausblieb, schrie er in das Zimmer: „Bei aller Dreifaltigkeitsscheiße, sag mir endlich, warum du weinst. Ich verbiete dir zu weinen …“

      Dann kniete er sich vor den Karton und begann nervös an den Deckeln zu hantieren.

      „Schau, schau hier, schau! Schau mal, ich habe etwas für dich. Schau doch!“ Er zerrte eine Dose hervor, riss hektisch am Ring des Deckels und schnitt sich am aufspringenden Metallrund in den Finger.

      „Hier, nimm! Iss. Iss. Nur für dich, meine unvergleichliche Lissi. Du musst sicherlich entsetzlichen Hunger haben.“ Er hielt die Dose in die Dunkelheit und wartete. Er presste die Lippen aufeinander und knirschte mit den Zähnen.

      „Du magst das nicht! Warum magst du nicht, was ich dir anbiete?“

      Er nahm den Arm zurück, hielt sich die offene Dose an den Mund und ließ einen Teil des Inhalts zwischen seine Zähne fließen. Winzige Gemüsestücke und ein Rinnsal aus roter Sauce rannen über sein Kinn und tropften zu Boden.

      „Du verachtest meine Geschenke, nicht wahr?“ Er musste leise sprechen. Ganz leise. Das taten kluge Leute immer.

      „Das hast du von Anfang an getan. Du hast, verflucht noch mal, von Anfang an geglaubt, dass es mir gleichgültig wäre. Nicht wahr, Lissi? Aber es war mir nicht gleichgültig! Nie!“, brüllte er seine Füße an und schmetterte die halbleere Dose an die Wand. Scheppernd fiel sie zu Boden, und ein roter, klebriger Strom zerfloss auf der zerschundenen Wand.

      „Aber ich werde dir sagen, was du jetzt machen wirst. Ich werde es dir sagen! Du wirst essen, und du wirst trinken. Du wirst aufhören zu weinen, und du wirst lächeln! Und alles, weil ich es dir sage. Es wird keine Widerrede geben, keine einzige, meine geliebte, zerbrechliche, engelhafte Lissi! Denn, wenn doch, dann, dann, dann …“ Er ballte die Fäuste so heftig zusammen, dass sie schmerzten, dass die Haut über den Knöcheln weiß zu schimmern begann. Und immer und immer und immer wieder schlug er sie sich gegen die Schläfen.

      Er zog die Stirn in Falten und verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen.

      „Du bist undankbar, mein Mädchen! Sehr, sehr undankbar! Aber – aber – aber ich werde dir wieder einmal verzeihen. Denn meine Güte kennt keinerlei Grenzen. Du kannst immer zu mir kommen, wenn du es willst. Jederzeit. Mir deine Sorgen erzählen. Dein Tommy ist dir nicht böse. Niemals. Wie könnte er? Er bleibt dein Beschützer. Deiner und der aller anderen. Er weiß, wie man mit all den Arschgeigen hier umzugehen hat, und er wird euch alle in ein besseres Leben führen.“

      Er machte eine lange Pause und lauschte nachdenklich dem Regen, der wieder eingesetzt hatte.

      „Aber jetzt geh! Er möchte Pläne schmieden. Dein Tommy möchte große Plane schmieden!“

      Eine halbe Stunde saß er im Dunkeln und schwieg. Dann stand er auf und folgte dem Tropfen und Plätschern des irgendwo durch das Dach fallenden Regens. Als er den Raum gefunden hatte, aus dem die Geräusche kamen kramte er den Plastikbecher aus seiner Kitteltasche und hielt ihn in den Faden aus hereinregnenden Tropfen. Er trank einen Schluck, und dann putzte er sich die Zähne.

      Das Fiepsen der Ratte weckte ihn. Sie saß in einer Ecke des Raumes und putzte sich lautlos. Er quälte sich von der Matratze hoch und überlegte einen Moment, ob er eine der Dosen nach ihr werfen sollte. Aber das Tier war durch seine Bewegung längst aufgeschreckt wie ein Pfeil durch die Türe verschwunden. Er hatte noch immer keinen Hunger, aber er leerte den Rest der auf dem Fensterbrett stehenden Wasserflasche in seinen Plastikbecher und trank ihn in einem Zug aus.

      Die Sonne schien durch das Fenster und warf ein verzogenes Schattenkreuz auf den Boden. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Dann schlenderte er gedankenverloren durch sieben Stationen, hob in der fünften einen alten, verschossenen Lederkoffer von den Dielen auf und stellte ihn zwei Stationen weiter wieder auf den Flurboden. Er betrat wahllos eines der angrenzenden Zimmer, schaute eine Weile aus dem Fenster und musterte dann den offenen Schrank hinter ihm aus dem eine Unmenge alter Turnschuhe quollen. Er wählte ein rotes Paar, probierte es an und ließ seine alten Schuhe einfach im Zimmer zurück. Dann ging er den Flur bis zum Ende und stieg die Treppe in den nächsten Stock hinauf. An der Flügeltüre, die in die Turnhalle führte lehnte ein Schild: Bitte nur mit Turnschuhen betreten!

      Weiß Kirkpatrick doch, dachte er und deutete im Weitergehen mit beiden Zeigefingern auf seine neuen rote Schuhe. Aber die anderen nicht! Dämlich wie sie sind! Geht schon in Ordnung. Eins und zwei und drei und eins, nuschelte er laut vor sich hin und betrat das erstbeste Zimmer an dem er vorbei kam. Eine Weile stand er unschlüssig in der Mitte des Raumes und betrachtete sich im Spiegel an der Wand. Dann zog er lustlos eine der Schubladen auf, durchwühlte den Haufen unterschiedlicher Kämme und Bürsten, nahm eine Bürste heraus und fing an sich die Haare zu kämmen. Als ihm das zu langweilig wurde, warf er die Bürste zurück in die Schublade und drehte den Kaltwasserhahn am Waschbecken vor ihm auf. Der Knopf machte ein kurzes schabendes Geräusch und ließ sich dann nicht mehr bewegen. Scheißladen!, dachte er und ging wieder nach draußen. Dann schaute er ins Patientencafé, blieb aber nur unter der Türe stehen und ließ den Blick durch den menschenleeren Saal streifen. Die Reihe festgeschraubter Hocker vor dem Tresen. Heruntergeregneter Putz, zwei Schiefertafeln links und rechts des Fensters und der halb herausgerissene Sicherungskasten an der Wand. Habt ihr heute Nacht wieder alles leer gesoffen, ihr tumben Alkoholiker. Und wo liegt ihr jetzt schnarchend herum? Er machte einen kleinen Satz auf den Flurläufer in der Mitte des Ganges und hörte auf seine Schritte. Tip – tap – tip – tap. Gute Schuhe, bestätigte er sich. Leise Schuhe. Dann lief er die Stufen hinauf auf die schmale Empore und drückte die doppelflügelige Holztür auf.

      Die Reihen der dunkelblau gepolsterten, durchnummerierten Sitze drehten ihm ihre Rücken zu. Er folgte den flachen mit Teppichboden ausgelegten Stufen hinunter und lehnte sich an das Geländer der Empore. Es roch nach uraltem Stoff, Glimmstengelqualm und Schweiß.

      Unten im Parkett lagen leere Flaschen und zerdrückte Zigarettenschachteln zwischen den Sitzen. Auf der Bühne war der rote, mit Mustern verzierte flache Brokatvorhang halb heruntergelassen und verdeckte den dahinter liegenden schweren Samtvorhang. Mens sana in corpore sano stand zwischen den Mustern. Blablablablablablabla …, spie er in den Saal, schüttelte seinen Kopf und hämmerte auf die Brüstung. An der Ecke zur Bühne lehnte eine Leiter an der Empore. Er stieg über das Geländer, die Leiter hinab und setzte sich im Parkett in die erste Reihe. Eine Weile saß er schweigend da und fuhr sich unentwegt über sein gebürstetes Haar. Dann stand er auf, ging die schmale Holztreppe hinauf auf die Bühne, zog seinen dreckigen Kittel aus, breitete ihn vor sich aus und stellte demonstrativ und theatralisch einen Fuß darauf.

      „Freunde“, rief er und ließ das Wort durch den Saal rollen. „Die Zeit ist nah, dass sich alles ändern wird. Und ich werde es sein, der euch diese Veränderung schenkt. Ich werde es


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