2022 – Unser Land. Rainer Hampel

2022 – Unser Land - Rainer Hampel


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diesen Worten ging Andreas weiter über den Hof zu den Umkleideräumen, um sich für seine Schicht umzuziehen. Vor ihm lagen vierzehn Stunden Normalschicht, in denen er kreuz und quer durch die Stadt fuhr und Mülltonnen leeren musste.

      Robert sah ihm hinterher und schob sein Fahrrad vor den Gebäudekomplex, in dem er ein kleines Büro hatte. Nachdem er das Rad sorgfältig angeschlossen hatte, ging er in hinein. Unterwegs nahm er schnell einen frischen Kaffee mit, den seine ältere Kollegin für ihn jeden Morgen kochte.

      In seinem Büro sah er kurz in den Ablagekorb und machte sich ein Bild von seinem Arbeitspensum für diesen Tag. Es war mittelmäßig viel und deshalb ließ er sich in seinen Bürostuhl sinken und gönnte sich erst einmal in Ruhe seinen Morgenkaffee.

      Sein Blick glitt über das spärliche Inventar des Raumes: Ein Aktenschrank aus Stahl und sein Schreibtisch stellten die einzigen Möbel dar. Unter dem Fenster hatte er aus gebrauchtem Material eine Blumenbank mehr schlecht als recht zusammengezimmert, auf der seltene Grünpflanzen standen, die er in seinem Entsorgungsbereich aus dem sammelte, was andere Leute wegwarfen. Die Rückenlehne ganz nach hinten gestellt lag er fast in seinem Stuhl und kam ins Grübeln.

      Was war aus diesem Land geworden? Dies stellte die zentrale Frage für Robert dar. Und was war falsch gelaufen, was hätte man besser machen können? Immer wieder bedauerte er, dass es im ehemals vielleicht fortschrittlichsten Land Europas zu Verhältnissen gekommen war, in denen einfache Menschen wenig Rechte und Chancen hatten, ein kleiner politisch etablierter Kreis Macht über Finanzen und Gesetze hatte und vor allem: Warum war es so hoffnungslos überschuldet? Wieso wurde in den siebzig Jahren seit seiner Gründung so viel mehr verbraucht, als geschaffen wurde? Robert suchte mit seinen Möglichkeiten nach einer Lösung. Stets musste er bei diesen Gedankenspielen aber einsehen, dass er als kleiner Mann nicht die geringste Aussicht darauf hatte, an diesen schlechten Verhältnissen etwas zu ändern. Der Staat schien sich immer mehr von seiner Bevölkerung zu entfernen und in der Hauptstadt wurde wirklich am Volk vorbei regiert. Diese Regierung stellte mehr oder weniger nur noch den Konkursverwalter einer einst angesehenen Nation dar.

      Was wäre zu tun? Robert war der Meinung, dass die wichtigste Maßnahme die Herstellung von Recht und Ordnung sein müsste. Gerade der Fall von Paul hatte ihm verdeutlicht, dass die unteren Schichten zu weiten Teilen verroht waren, was das Land in eine tiefe Depression geführt hatte. Und die vorstellbare Weiterentwicklung dieses Zustandes ließ nichts Gutes erwarten. Gewalt erzeugte Depression und umgekehrt, so dass es zu einer unaufhaltbaren Spirale des Schlechten kommen musste. Es fehlte an riesigen Geldmengen, um einen am Bürger orientierten Staatshaushalt aufstellen zu können, in dem genug Potenzial war, soziale Programme für das eigene Volk zu bezahlen.

      Gerne und oft erinnerte er sich an früher, seine Kindheit in den 1980-er Jahren. Schon damals lebten seine Eltern mit ihm in der Messestadt in der Randstraße der Südvorstadt. Sie hatten ein normales und gutes Leben. Ab 1986 bekam Roberts Familie ein Pflegekind, einen Jungen in seinem Alter. Beide wurden zusammen eingeschult und weil sich Felix bestens in die Familie eingelebt hatte, durften Roberts Eltern ihn ein Jahr später adoptieren. Seinen früh verstorbenen leiblichen Vater hatte der Adoptivsohn nie kennengelernt und seine Mutter hatte ihn in der Folge vernachlässigt und es zur Alkoholikerin geschafft. In der Pflegefamilie blühte er auf und Robert und er wurden wie Geschwister groß. Damals war eigentlich alles in Ordnung, obwohl Robert später erfahren musste, dass auch nicht alles so gewesen war, wie es den Anschein hatte. Zumindest herrschte sozialer Frieden unter den Leuten und das war der größte Unterschied zu seinem jetzigen Leben. Früher Frieden – jetzt totale Anarchie. Untereinander gab es in diesem Land nur Misstrauen, Neid, Dummheit und in dessen Folge handfeste Gewalt. Soziale Kompetenzen schienen sich komplett aufgelöst zu haben. Deshalb schlummerte in Robert der Drang nach Verbesserung und sei es nur im kleinsten Rahmen.

      Er hatte seinen Kaffee ausgetrunken, stand auf und ging nach draußen über den Flur zur Toilette. Nachdem er sich die Hände abgetrocknet hatte, sah er einige Momente in den Spiegel. Er erblickte einen Mann von fast vierzig Jahren mit kurzen dunklen Haaren. Seine fast ein Meter neunzig und seine schlanke Statur verliehen im etwas Hageres. Doch seine Gesichtszüge, seine Augen und sein Kinn wirkten männlich und vermittelten Stärke, die er durchaus besaß. Robert achtete auf sein Äußeres, Frauen zog sein gutes Aussehen an.

      Wieder im Büro dachte er kurz an den Fall Paul und daran, dass er durch seinen Kontakt zu dem Mann vom Liberalen Bund helfen konnte. Nun wollte er sich seinerseits dafür bei diesem bedanken. Er wählte seine Nummer und wartete.

      „Moin, Robert, du bist aber zeitig auf den Beinen. Ist doch gerade halb acht. Ist alles in Ordnung?“, meldete sich der Angerufene.

      „Morgen, ja, ist alles okay. Ich wollte mich für Paul bedanken. Deine Erklärung hat ihm ein paar Jahre erspart. Ich habe eben mit seinem Vater gesprochen. Danke, auch von ihm.“

      „Ist gut. Vielleicht kann er mir auch mal einen Gefallen tun.“

      Robert verdrehte seine Augen, als er das hörte. Politikern ging es immer nur um den Handel mit Gefälligkeiten. Anscheinend führten die auch genau Buch darüber, um zu einem gefälligen Zeitpunkt auch alles wieder einfordern zu können.

      Er erwiderte: „Immer hübsch alles merken und aufschreiben. Kann auch mal jemand etwas aus Überzeugung oder Nächstenliebe machen?“

      „Robert, bleib mir vom Halse mit deiner Moral. Wo lebst du eigentlich? Es geht nicht mehr wie früher, alles bullebuh und schön.“

      „Ach vergiss es. Ich wollte nicht gleich wieder unser altes Thema aufwärmen. Ich weiß ja, dass du es anders siehst. Wie geht es euch denn?“

      „Danke der Nachfrage, alles bestens. Wie geht’s Mutter?“

      „Auch gut, du weißt doch, wie sie sind. Mit der Neuzeit kommen sie nicht mehr klar. Ich muss mich eben kümmern.“

      „Wir sehen uns ja bald. Grüß sie bitte ganz lieb von mir. Und von dir hoffe ich, dass du mir zu Weihnachten eine Frau an deiner Seite vorstellst.“

      Er lachte bei diesem Satz, was Robert etwas verlegen machte. Frauen waren nicht gerade seine Stärke, obwohl er gerne eine Freundin hätte.

      „Ach lass mich doch in Ruhe. Kümmere du dich um ordentliche Politik. Stellt was Ordentliches auf die Beine, sonst gibt’s Krach. Dann kriegen alle richtig was auf die Fresse. Will dann auch keiner.“

      Stets erinnerte Robert daran, dass die Massen, wenn es politisch weiter so bergab geht, revolutionär zurückschlagen könnten und es dann den Verantwortlichen an den Kragen ginge. Zumindest träumte er davon.

      „Robert, du kleiner Revoluzzer. 1917 und ’89 sind lange her. Wieso du nicht wegkommst, von dem alten Gelaber!? Unser Land ist neoliberal aufgestellt und wir machen das Beste daraus.“

      „Du Träumer, sind neun Millionen Arbeitslose das Beste? Schade, dass ich euch nicht mal richtig die Meinung geigen kann. Ihr würdet Augen mach in eurem liberalen Club. Aber lass uns nicht streiten. Ich wollte dir doch danken.

      Wann hören wir uns wieder?“

      „In zwei Wochen ruf ich dich an und sage dir Bescheid wegen Weihnachten.

      Lass es dir gut gehen. Bis dann mal.“

      Vor dem Auflegen sagte Robert: „Bis dann. Mach es gut, Felix Dännicke!“

      ***

      Am Nachmittag ging Robert in die zweite Etage des Gebäudes zu seinem Vorgesetzten. Jedes Mal, wenn er hier war, ärgerte er sich innerlich, dass dieses Büro erheblich besser ausgestattet war als sein eigenes. Schränke, Regale, eine Schreibtischkombination und ein Besprechungstisch waren hochwertige Möbel aus dunkler Holznachbildung. Den Fußboden bedeckte ein anthrazitfarbener Teppich, was dem Büro einen noch eleganteren, aber auch schwereren Ton gab. Vor dem großen Fenster liebte sein Chef Aluminiumjalousien, die das Tageslicht nur gedämpft hereinließen.

      Robert grüßte höflich: „Guten Tag, wir wollten uns wegen Andreas Schubert unterhalten. Er hat die Sache nun überstanden.“

      „Hallo, setzen Sie sich und nehmen Sie sich,


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