2022 – Unser Land. Rainer Hampel
Suchmaschinen Namen, Anschriften und andere persönliche Informationen über Personen herauszufinden. Die Suchmaschinen wurden im Zuge der Internetrestriktion ab dem Jahr 2015 gesperrt – waren damit nicht mehr existent. Überhaupt wurde das Internet ab diesem Zeitpunkt dermaßen streng überwacht und eingeschränkt, dass es inzwischen unmöglich war, einfach einen Namen zu scoogeln, wie es früher gang und gäbe war. Die Mitglieder des AK kannten sich faktisch nicht und hatten auch keine Möglichkeit, jeweils gegenseitig tiefgründigere Daten zu erhalten.
Felix Dännicke jedoch würde es trotzdem versuchen.
5. KAPITEL
Am 22. Dezember freute sich Robert, dass es doch noch zu der kleinen Familienzusammenkunft kommen würde, die durch einen Streit zwischen ihm und seinem Adoptivbruder Felix fast unmöglich geworden wäre. Felix wollte wissen, in welchem Gefängnis Paul einsaß. Robert sollte dazu seinen Arbeitskollegen Schubert, Pauls Vater, fragen. Und er wollte die Erlaubnis, Paul dort einen Besuch abstatten zu dürfen. Nach Roberts Ansicht stand zu erwarten, dass Felix diesen armen Kerl für sich und seine Ziele gewinnen und dies als Gegenleistung für seine Fürsprache in dem Gerichtsverfahren verstehen würde. Dieses Einfordern des Gefallens von Felix war für Robert höchst bedenklich, geradezu unmoralisch. Er ahnte, dass die Kontaktaufnahme zwischen den beiden nur zu Pauls Nachteil ausfallen konnte.
Sie hatten sich am Ende darauf geeinigt, dass der Besuch stattfinden und Felix darüber genau Bericht erstatten sollte. Robert erhoffte sich damit eine Chance auf etwas Kontrolle und Einflussnahme auf den weiteren Verlauf dieser „Freundschaft“.
Robert war zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zum Van-Point der Stadt. Der VP war ein größerer, nachlässig mit Schotter befestigter Platz, der als eine Art Bahnhofs- und Umschlagpunkt für Kleintransporter und Vans diente. Der Bedarf danach entstand während der Energiewende in der zweiten Hälfte der 2010-er Jahre, als individuelle Einzelfahrten mit Privat-PKW unbezahlbar geworden waren. Rasch bildeten sich Fahrgemeinschaften in Kleinbussen, um die horrenden Kraftstoffpreise überhaupt noch bezahlen zu können. Dies galt im Allgemeinen für Privatfahrten, jedoch mussten auch immer mehr Betriebe, öffentliche Unternehmen, Schulen, Krankenhäuser, die Bundeswehr und auch der Politikbetrieb diesen neuen Transportweg nutzen.
Felix war es gelungen, wenigstens eine Fahrgemeinschaft unter seinesgleichen – einen parteiintern genutzten Kleinbus – zu ergattern und konnte die Fahrt von der nördlichen Elbestadt in die ehemalige Messestadt einigermaßen niveauvoll verbringen. Für die nicht privilegierten Bevölkerungsteile galt dies nicht.
Robert wiederum besaß zwar kein eigenes Fahrzeug, hatte aber von Zeit zu Zeit Zugriff auf den Bulli der SE, seinem Arbeitgeber, für dessen Nutzung er pro gefahrenen Kilometer eine halbe Arbeitsstunde leisten musste oder von seinem Lohn abgezogen wurde. Trotz dieser exorbitanten Regelung stellte diese immer noch einen Vorteil für Robert dar. Mit dem Bulli holte er Felix an diesem Morgen ab und wartete seit etwa fünf Minuten auf dem VP.
Er beobachtete einerseits resigniert, andererseits aber auch fasziniert das Treiben der An- und Abreisenden. Menschen jeglichen gesellschaftlichen Standes nutzten diese neue, wenn auch erzwungene Reisemöglichkeit. Ein nützlicher Nebeneffekt war, dass der CO2-Ausstoß erheblich sank und die Klimaziele praktisch „unverschuldet“ eingehalten wurden. Der Platz sah nicht besonders einladend aus. Der kalte, graue Wintertag tat sein Übriges. Hier und da lagen ein paar schmutzige Schneereste der letzten Tage – eigentlich ein Tag für depressive Stimmung. Robert übersah das, war er doch sehr gespannt auf Felix und dessen Bericht über seinen Besuch bei Paul.
Der LBD-Bus war nicht als solcher gekennzeichnet, sondern fuhr möglichst anonym durch die Republik. Daher konnte Robert nicht ausmachen, in welchem Bus Felix ankommen würde, und die Suche auf dem VP erwies sich an diesem Tag als anstrengend und zeitaufwändig. Zum bevorstehenden Weihnachtsfest fielen einfach noch immer zu viele Privatfahrten an, so dass der VP an diesem Tag einem fremdländischen, chaotischem Basar ähnelte.
Nach längerem Suchen gelang es Robert, Felix bei dessen orientierungslosem Überqueren des Platzes ausfindig zu machen, und er fuhr langsam auf ihn zu. Er hielt direkt neben ihm und hupte kurz, worauf Felix in das Wageninnere schaute und Robert erkannte.
Er öffnete die Beifahrertür und rief: „Hallo, Robert. Gott sei Dank. Ich laufe schon ewig hin und her und suche dich.“
„Hallo, Felix, spring rein und lass uns abdüsen. Ist heute fürchterlich hier.“
Der Bruder zog die Tür schwungvoll hinter sich zu und ließ sich in den Sitz sinken. Sein Gepäck warf er nachlässig auf die Hinterbank.
Als Robert anfuhr, blickte er nach rechts zu Felix und grinste: „Hast zugenommen. Ist euer Leben so reichlicher als unseres?“
„Ja, ja. Ich weiß. Jetzt erzählst du mir wieder was von gesunder und enthaltsamer Lebensweise. Ach, Robert, ich weiß gar nicht, woher du deine Lebensfreude nimmst, wenn du so karg lebst. Naja, gesünder bist du jedenfalls als ich. Da muss ich dir recht geben.“
Felix fühlte sich bei dem Gedanken, dass sein Bruder wieder einmal das Richtige dachte und sagte, nicht wohl. Die Kritik an seiner Person machte ihm zu schaffen. Er wollte aber nicht, dass dies so offensichtlich wurde, und bemühte sich um einen unverkrampften Umgang damit. Das gelang ihm allerdings nur dürftig.
„Sei doch nicht gleich beleidigt. Aber was wahr ist, soll auch wahr bleiben. Also im Ernst, wie geht es dir und der Familie?“
„Danke, alles in bester Ordnung. Rita hat in letzter Zeit etwas mehr Sorgen wegen unserem Bengel.“
Felix nannte seinen Sohn stets Bengel. Seine Beziehung zu ihm litt unter einem erheblichen Mangel an Bindung, Emotionen und Offenheit. Der „Bengel“ war mehr oder weniger das Projekt seiner Frau, die mehr schlecht als recht ihre Erziehungsaufgabe allein wahrnahm. Robert dachte: ‚Nicht nur als Vater bist du ein Versager.‘
Laut sagte er: „Felix, du musst ihr mehr Unterstützung geben. Mit dem Bengel kommt man nicht mehr so leicht aus, der ist jetzt fünfzehn. Wie soll er denn ohne Mitwirkung seines Vaters ordentlich ins Leben wachsen und später ein guter Bürger unseres Landes werden?“
Felix gefiel das Gespräch immer weniger. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, dann war es Kritik an seiner Person, seinen Ansichten oder seinem Handeln. Robert tat genau das; er wusste es seit ihren Kindertagen: Immer war es Robert, der mit Aufrichtigkeit punktete, und immer war es Felix, der mit Verschlagenheit und Halbwahrheiten sein Ziel zu erreichen versuchte. Dass Robert ihm moralisch dermaßen überlegen war, ging ihm gewaltig gegen den Strich.
„Nun mach mal halblang! Davon verstehst du doch gar nichts. Hast kein Kind und kein Kegel und gibst schlaue Ratschläge.“
Sie waren vor dem Haus ihrer Mutter Doreen angekommen. Robert pflegte zu ihr eine gute Beziehung, die der von Felix jedoch nicht gleichzusetzen war. Doreen hatte sich Zeit ihres Lebens darum bemüht, zu beiden Kindern gleichberechtigt liebevoll zu sein, was ihr fast immer gelungen war. Jetzt, da ihre Söhne erwachsen waren, handhabte sie das nicht anders.
„Ist Mutter zu Hause?“, fragte Felix und beendete damit ihren Disput über Kindererziehung und Ernährung.
„Nein, sie ist noch auf dem Markt. Will aber zum Mittag wieder da sein. Es gibt Kammscheiben, Knödel und Sauerkraut. Weil du dir’s gewünscht hast – wie immer vor Weihnachten.“
„Ich hatte es gehofft. Schenkst du ihr was?“
Robert antwortete nicht. Sie stellten den Bulli der SE vor dem Haus ab und liefen über den Hof bis zum Hintereingang. Nachdem Robert aufgeschlossen hatte, liefen sie die vier Geschosse nach oben und betraten die Wohnung ihrer Mutter. Sie stellten fest, dass hier wie immer alles in einem sehr sauberen und ordentlichen Zustand war. Bei Doreen hatten Dreck und Unordnung keine Chance. Ihre Söhne waren da nicht so genau – eine der wenigen Gemeinsamkeiten der beiden.
Felix stellte im Wohnzimmer die Heizkörper auf die höchste Stufe und machte es sich in einem Sessel bequem. Er betrachtete das Inventar und den bereits geschmückten Weihnachtsbaum. Die Einrichtung der Wohnung war seit jeher bescheiden, einfach und immer in ordnungsgemäßem