2022 – Unser Land. Rainer Hampel
eine Gruppe von zwanzig Jungen und ihre Aufgabe war es, Pakete mit Gussteilen für einen Maschinenbaubetrieb zu packen. Eine leichte, aber unbezahlte Arbeit, die eine willkommene Ablenkung vom ansonsten harten Knastleben brachte.
Er schweifte mit seinen Gedanken zu dem für heute angesetzten Besuch seines Prozessunterstützers. Paul erinnerte sich nicht mehr an seinen Namen, wusste aber, dass dessen Stellungnahme ihm sicherlich fünf Jahre Strafe erspart hatte. Er hatte keine Ahnung, was dieser in seinen Augen nutzlose Politikfuzzi von ihm wollte. Eigentlich hatte er überhaupt keine Lust, sich in ein Gespräch mit ihm einzulassen, diese Welt war für ihn nicht nachvollziehbar, auch wegen seines geringen Intelligenzquotienten. Paul kannte seinen Wert, da er bei Haftantritt einen Test gemacht hatte. Mit 79 Punkten befand er sich im Durchschnitt des Gefängnisses, galt aber für das normale Leben als leicht dumm. Sein Unbehagen und seine Minderwertigkeitskomplexe wären noch größer gewesen, wenn er gewusst hätte, dass sein Gesprächspartner einen IQ von 137 besaß.
Sein Arbeitstag – Feiertage gab es in der Jugendstrafanstalt nicht – endete an diesem Tag wegen des Gesprächs etwas früher und nachdem er den kurzen Weg in die Besucherzellen geführt worden war, saß er dem Fuzzi gegenüber.
Sie hatten eine Stunde Zeit für das Gespräch und befanden sich dafür in einer der Zellen, die im Eingangsbereich für die vertraulichen Besucher vorgesehen waren. Die vertraulichen Besuche stellten eine Ausnahme dar und waren nur durch besondere Befugnisse oder Beziehungen des Besuchers einzurichten.
„Guten Tag, Paul, ich bin Felix Dännicke, du erinnerst dich wahrscheinlich an mich. Ich habe in deinem Prozess für dich Stellung genommen und dir dadurch etwa fünf bis sieben Jahre Hafterlass gebracht.“
Paul war nicht besonders gerührt, musste aber die Hilfestellung von diesem Typ anerkennen. Er nahm sich vor, nicht undankbar zu wirken und ein möglichst normales Gespräch zu ermöglichen. Den Zweck herauszufinden, war ein weiterer Punkt, etwas Disziplin an den Tag zu legen.
„Ich weiß. Danke dafür. Was wollen Sie denn hier?“
Eine vernünftige Konversation war für Paul ungewohnt und er unternahm aus seiner Sicht erhebliche Anstrengungen, zivilisiert zu reden.
„Ich wollte einfach mal sehen, wie es dir geht. Im Prozess war es ja nicht möglich, dich etwas genauer kennen zu lernen. Durch die Fürsprache von meinen Bruder habe ich zumindest die nötigsten Informationen bekommen, die ich brauchte. Ich bin an unserer Jugend interessiert, weil sie doch die Zukunft unseres Landes darstellt.“
Mit solchem, aus Pauls Sicht, Geschwafel, konnte er nicht viel anfangen. Er wusste nicht so recht, wie er eine Stunde auf dieser Ebene reden sollte. Felix nahm ihm die Sache etwas ab und fing an, über Jugendprogramme seiner Partei, über seine eigenen Bemühungen – mit Ausnahme seiner Arbeit im Arbeitskreis –, über Zukunftsaussichten der Republik und über Pauls mögliche Parteiarbeit beim LBD zu reden. Bei diesem Punkt sank Pauls Bereitschaft zu einem Gedankenaustausch auf den Tiefpunkt. Was sollte er in einer Partei? Wusste der Fuzzi überhaupt, mit wem er es zu tun hatte?
Der Fuzzi schwafelte weiter. Pauls Bereitschaft zur Zusammenarbeit vorausgesetzt, könne er sich dafür einsetzen, dass er vorzeitig entlassen werde, außerdem über seine Beziehungen ein eigenes ID und einen Praktikumsplatz erhalten könne. Allerdings würde es sich ausschließlich um Hilfsarbeiten für ihn, Felix, handeln, mit der echten Politikarbeit hätte er keine Berührungspunkte.
Paul fragte nun doch genauer nach: „Was denn für Arbeiten? Ist das überhaupt was für mich?“
„Es geht nicht darum, dass du mir Reden oder Briefe schreibst. Es sind ständig irgendwelche Botengänge, Fahrten zu Veranstaltungen, Wahlkampfhilfen oder andere praktische Hilfsarbeiten zu erledigen. Das wäre was für dich. Vielleicht nicht Vollzeit, aber eine halbe Stelle kriegen wir schon hin.“
„Und wie soll das gehen, mit der vorzeitigen Entlassung? Gute Führung und so? Sehen Sie mal in meine Fresse! Das ist dann wohl gute Führung.“
Paul streckte ihm seine besonders lädierte Gesichtshälfte hin und legte nach: „Am Arsch und noch weiter hab ich noch mehr kaputtes Fleisch. Auch mal ’n Blick riskieren?“
Er lachte gequält und wollte sein Gegenüber nicht weiter belästigen. Diesen Mindestanstand hatte er zu Hause mitbekommen. Felix wendete sich etwas ab und überwand seinen Ekel. Freundlich und unbeirrt setzte er seine Charmeoffensive fort: „Lass mal sein. Ich kenn mich auch aus. Gute Führung heißt vor allem: Lass dir nichts selber zuschulden kommen. Das macht es nur schwerer.“
Felix dachte noch: ‚ … aber nicht unmöglich‘, wollte aber von seinen Möglichkeiten nicht weiter reden.
Nach einer weiteren Viertelstunde Monolog von Felix, kam aus den Lautsprecher die Ansage, dass die Besuchszeit in fünf Minuten beendet sei und die Tür automatisch für eine Minute geöffnet werde. Das bedeutete für die Besucher, dass sie in dieser Minute zuverlässig und aus eigenem Interesse verschwinden mussten. Nachdem die Tür wieder geschlossen war, ließ sie sich nur noch manuell von einem Beamten öffnen. Und wenn es dazu kam, standen für den Besucher und den Besuchten drakonische Strafen auf dem Spiel. Daher funktionierte die automatische Regelung vortrefflich, so wie in allen anderen Bereichen auch; es mussten nur die zu erwartenden Sanktionen richtig schmerzlich sein. Seine Lektion hatte der Saat gelernt.
Felix kam zum Ende: „Also, ich biete dir an: Entlassung in einem Jahr, eigenes ID, Halbtagspraktikum mit Bezahlung. Deinen Wohnort bestimme ich. Du musst darüber nachdenken und ein Jahr friedlich bleiben. Wenn du dich dafür entscheidest, setze ich deine Treue zu mir voraus. Anderenfalls hätte ich auch Mittel und Wege, mich zu wehren. Gib mir in einem Monat Bescheid. Über deinen Vater und Robert Heinel. Direkten Kontakt gibt’s vorerst nicht zu mir! Mach’s gut!“
Diese konkrete, schnelle Art beeindruckte Paul zum ersten Mal. Das war seine Welt: kurz und knapp. Er stand auf und gab Felix die Hand.
„Ich überleg es mir. Will aber auch danach noch was davon haben. Wenn ich es mach. Ich meine erfolgreich sein und so. Tschüss.“
Mit diesen ungewöhnlichen Schlusssätzen beiderseits verließen sie den Raum. Sechs Wochen sagte er seinem Vater bei einem Besuch, er solle über Robert diesem Politfuzzi mitteilen lassen, dass er das Angebot annehmen würde. Die gute Führung gelang ihm zwar nicht. Felix’ Beziehungen waren jedoch so gut, dass er auch diesen Punkt überwinden konnte.
***
Als er den gemieteten Kleinbus wieder erreichte, in dem seine Frau und der Bengel eineinhalb Stunden gewartet hatten, setzte sich Felix nach hinten und begann zu telefonieren. Dass deshalb Rita ans Steuer musste, nahm er in Kauf.
Er rief Ostermann an: „Guten Abend, Herr Ostermann.“
Dass es am zweiten Weihnachtsfeiertag eine Zumutung für andere war, geschäftliche Telefonate führen zu müssen, war ihm egal. Felix kannte keine Privatsphäre, warum sollte er Rücksicht auf andere nehmen? Sein Vorgehen beim Arbeitskreis war da wichtiger und hatte für ihn oberste Priorität.
Ostermann antwortete mürrisch: „Herr Dännicke, guten Abend. Mit diesem Anruf habe ich nicht gerechnet. Sie wissen, dass Weihnachten ist? Ist sitze mit meiner Familie zusammen.“
Felix wartete einen peinlich langen Moment ab und führte das Gespräch weiter, ohne auf die Kritik einzugehen; schon gar nicht beantwortete er die Frage.
„Ich wollte mich kurz mit Ihnen austauschen, wie Ihr Stand ist. Morgen treffen wir uns im Norden. Sind Sie nach wie vor gewillt, einen eigenen Vorschlag einzureichen, oder können Sie sich vorstellen, sich mir anzuschließen?“
Ostermann hatte nicht die Absicht, sich so unverblümt in die Karten sehen zu lassen. Er überlegte kurz. Sein eigener Stand war nicht zufrieden stellend. Er ging davon aus, dass Felix weiter vorangekommen war. Ihm war nicht klar, dass Dännicke überhaupt nichts ausarbeiten brauchte, war doch sein Konzept bereits vor dem Zusammenschluss im Arbeitskreis fertig ausgearbeitet. Felix selbst konnte sich voll darauf konzentrieren, wie er mit seinen Wettbewerbern und Konkurrenten taktisch richtig umzugehen hatte. Zu diesem Zeitpunkt wollte er erfahren, ob Ostermann auf seine Seite zu ziehen war, wodurch