2022 – Unser Land. Rainer Hampel
eine zeitgemäßere Einrichtung hatte.
Als sein Bruder nach ihm ins Zimmer kam und ihm ein Bier in die Hand drückte, fragte er: „Geht es ihr inzwischen wieder besser? Sie hat doch das letzte halbe Jahr nicht so rosig verbracht.“
„Ja, vor vier Wochen hatte sie die letzten Untersuchungen. Nun kann sie recht beruhigt in die Zukunft schauen. Hättest ja mal anrufen können. Also, los: Prost, ich freue mich, dass du hier bist. Kommen Rita und der Bengel morgen?“
Sie prosteten sich zu und Felix erklärte die Reiseumstände seiner Familie. Da Rita mit dem Bengel zu Besuch bei ihrer Verwandtschaft war, konnte sie erst einen Tag später anreisen, was Felix nicht besonders traurig stimmte. Es war nicht sehr weit von dort bis hierher, so konnte sie den Weg ohne größeren Aufwand selbst organisieren. Er freute sich darauf, mit seinem Bruder, seiner Mutter und Doreens Eltern einen ruhigen Abend „ganz in Familie“ zu verbringen. So sehr ihm dieses Gefühl selbst gut tat, er war nicht in der Lage, dieses auf seine eigene Familie zu übertragen oder ansatzweise in dieser Richtung Gefühle zu entwickeln. Robert war da vollkommen anders – sämtliche Fähigkeiten, die seinem Bruder auf diesem Gebiet fehlten, konnte er in besonderer Ausprägung zu seinen Stärken zählen.
Robert erzählte weiter von der überstandenen Krebserkrankung ihrer Mutter und den damit verbundenen finanziellen Problemen. Einen großen Betrag der Behandlungskosten und Medikamente musste die Familie privat aufbringen. Doreens Krankenversicherung schloss nur das einfachste Schutzpaket ein – eine teure Krebsbehandlung wurde dabei nur mit umfangreichen Eigenbeteiligungen der Versicherten vorgenommen. Das betraf allerdings drei Viertel der gesamten Bevölkerung. Die Frage nach einem Weihnachtsgeschenk ließ sich somit auch auf die einfache Art beantworten.
„Felix, ich habe im letzten halben Jahr locker drei Monatsgehälter an das Krankenhaus überwiesen. Das ist mein Geschenk.“
„Sorry, das wusste ich nicht. Wieso habt ihr denn mir nichts davon gesagt? Ich hätte auch was dazu beitragen können.“
Robert sah ihn fragend und unsicher an. Er überlegte, ob er seinem Bruder sofort die Meinung geigen oder im Interesse einer guten Stimmung darauf verzichten sollte. In Roberts Augen war das nachträgliche Angebot von Felix der blanke Hohn, obwohl er wusste, dass auch Felix einen minimalen Sinn für Familie und Nahestehende hatte. Allerdings ließ sein Engagement als Politiker dies nur sehr begrenzt zu – man könnte es auch als Aufflackern bezeichnen. Vielleicht war ja heute so ein Aufflackern zu erkennen. Robert sagte deshalb ziemlich gedämpft: „Zu spät, mein Guter. Probier’ doch mal, neben deinem Politikhype immer öfter auch was Persönliches und Privates in dein Leben zu lassen. Felix, du gehst komplett in deiner Funktion auf und veränderst dich damit.“
Es entstand eine Gesprächspause. Felix sah vor sich hin und dachte über Roberts Worte nach.
Dieser schob nach einer Weile nach: „Und nicht zu deinem Vorteil.“
„Hast ja recht. Ich merke das selber, aber das eigene Eingeständnis fällt sehr schwer. Ich mach auch nur das, wovon ich glaube, dass ich es am besten kann. Denkst du, in meinem Business ist alles nur rosarot? Robert, da geht’s zu wie auf dem Schlachtfeld. Wer zuckt hat verloren. Ich hab nur Konkurrenten und Gegner um mich herum, selbst in meiner eigenen Partei. Schuster ist mir da noch am ehesten eine Hilfe. Ich hab dir von ihm erzählt.“
„Ist schon gut, lass uns den Weihnachtsfrieden wahren. Aber ein paar kritische Anmerkungen kann jeder mal gebrauchen. Los, Mutter kommt jeden Moment, lass die Flaschen verschwinden.“
Felix nahm den Waffenstillstand der Worte an, konnte sich jedoch nicht verkneifen, noch einen Pfeil gegen Robert abzuschießen.
„Mein Bruder, der große Demokrat und Revoluzzer – und wenn die Mama kommt, müssen schnell die Biere weg. Ich denk, in euren Kreisen geht es so offen und unkompliziert zu?“
„Lass gut sein“, Robert grinste nur und sagte weiter: „Das kriegst du alles zurück, du Vertreter der Bourgeoisie!“
Nach einer Weile des stillen Wartens klingelte es an der Wohnungstür und beide standen auf, um Doreen zu begrüßen.
Felix nahm ihr die Einkaufstüten ab und ließ sich von ihr herzlich drücken. Doreen freute sich immer aufrichtig, wenn sie ihre beiden Söhne bei sich zu Hause hatte und sich um sie kümmern konnte. Sie betrachtete Felix schon seit Ewigkeiten nicht mehr als ihr Pflegekind, sondern machte, was ihre Herzlichkeit betraf, keine Unterschiede zwischen den beiden. Es war ohnehin in der zweiten Hälfte der 2010-er Jahre sehr schwer geworden, angesichts der verknappten und verteuerten Mobilität, Freunde oder Verwandte zu besuchen. Wenn sie Felix zwei Mal im Jahr sah, war das viel, und sie freute sich, dass er mit seiner privilegierten Stellung die Möglichkeiten dazu hatte. Das ging den wenigsten Familien so. Es war inzwischen die Regel, Besuche nur noch in unmittelbarer Nähe anzutreten. Sobald die Strecke zu groß wurde, machte man sie schlicht nicht mehr. Das Geld für die Treibstoffe konnte einfach kein normaler Privathaushalt mehr aufbringen. Jeder war indessen froh, wenn seine Angehörigen nicht mehr in die Ferne zogen, um zu arbeiten oder das Leben zu genießen. Da trotzdem viele der jüngeren Menschen diesen Wunsch verspürten, brach die familiäre Bande in den meisten Fällen auseinander, und es fehlte der Mehrzahl der Menschen an sozialen Bindungen – ein erheblicher Grund für die deutlich spürbare Schieflage im sozialen Gefüge der Republik. Es sehnten sich sogar viele wieder nach Verhältnissen, wie sie vierzig Jahre zuvor im Ostteil des Landes herrschten – und das in der gesamten Republik.
Doreen machte sich nach der längeren Begrüßung in der Küche zu schaffen. Als sie später zusammen saßen und sich das Mittagessen schmecken ließen, strahlte sie unmerklich. Diese Momente gaben ihr Wärme und Zufriedenheit. Jedoch dachte sie auch daran, dass ihre Söhne regelmäßig aneinander gerieten und sich im Streit heftige Wortgefechte lieferten. Sie waren einfach zu unterschiedlich. Sie jedoch wollte die nächsten Tage in Ruhe verbringen und hoffte, dass es vielleicht diesmal ohne größere Streitereien klappte.
Später, nach dem Mittagessen sprachen sie wenig. Robert hatte anklingen lassen, dass er über den Besuch bei Paul Bescheid wissen wollte, doch Felix hatte nur abweisend geantwortet, er habe wegen seiner Arbeit in einem neuen Arbeitskreis noch keine Gelegenheit dazu gehabt. Er wolle über die Feiertage versuchen, diesen Besuch zu erledigen. Dazu habe er seiner Frau klargemacht, dass die gemeinsame Rückreise diesen Umweg bedeuten würde. Der Bengel war zwar nicht begeistert, hatte aber gegenüber seinem Vater keinerlei Stimmrecht.
Seine Tätigkeit im AK Finanzkonsolidierung erwähnte er nicht weiter, auch aus dem gegebenen Geheimhaltungsversprechen.
***
Der unvermeidbare Familienstreit brach am Heiligabend aus. Auslöser war ein vorerst harmloses Gespräch zwischen Felix und seiner Frau Rita. Er hatte sich bei ihr erkundigt, wie die Fahrt zum VP gewesen war, und erfahren, dass sie den Mietbus selber gefahren hatte.
„Wie kannst du nur so naiv sein?!“, polterte er ziemlich heftig los. „Du weißt, was uns deine Fahrerei schon gekostet hat. Der Bus war mit meiner ID bezahlt!“
Sie erwiderte ohne große Gegenwehr: „Sei nicht so aggressiv, so schlimm fahre ich nicht. Ich habe nichts bemerkt, wenn dich das beruhigt. Die anderen wollten nicht fahren.“
„Rita, du hast wirklich keine Ahnung! Nichts bemerkt, das ist doch Quatsch. Lückenlos bist du dran – und das auf mein Konto! Ich kann es gar nicht fassen, dass du selber gefahren bist. Wie kann man nur so doof sein!“
Der Bengel wollte Rita helfen und wandte ein: „Es war wirklich nichts, Mama ist ganz ordentlich durchgefahren.“
Jetzt wurde sein Vater richtig laut und grob: „Bengel, halt dich da raus! Du hast gar nichts zu sagen. Deine Mutter hat einen Fehler gemacht und du wirst den nicht rückgängig machen. Also halt die Klappe!“
Felix hatte sich in Rage geredet. Auch die nervösen Blicke von Doreen, die den Streit mitbekam, änderten daran nichts. Felix konnte nicht wegen einer vermeintlichen friedlichen Weihnachtszeit darauf verzichten, auf dem Unrecht herumzuhacken, das ihm wahrscheinlich durch Ritas Fahren blühte. Robert hatte im Nebenzimmer in etwa mitbekommen, worüber die beiden stritten. Er versuchte sich herauszuhalten, wusste