2022 – Unser Land. Rainer Hampel
setzte sich seinem Chef gegenüber. Dieser hatte bereits ein Tablett hereinbringen lassen, auf dem Mineralwasser, Gläser, eine Kanne frischer Kaffee und Porzellantassen standen. Nachdem sich beide einen Kaffee eingegossen hatten, begann Robert: „Wir sollten nicht so viel Aufheben machen und die Sache praktisch sehen. Herr Schubert soll einfach weiter ordentlich arbeiten.“
Robert wusste, dass seine Vorgesetzten Anhänger von Härte und Strenge waren. Damit bezweckten sie eine strenge Disziplin in ihrer Belegschaft und vermieden firmenintern die ansonsten konfliktreiche Beziehung der Leute mit dem Gesetz. Die Gewalttätigkeiten von Familienangehörigen der Belegschaft hatten zwar keine unmittelbaren oder schlechten Auswirkungen auf den Betrieb, aber für die Chefetage war das ein willkommener Anlass, auch hier Unnachgiebigkeit zu demonstrieren. In der Städtischen Entsorgung sollte Zucht und Ordnung herrschen. Nachdem alle öffentlichen Betriebe die Tarifverträge aufgekündigt hatten, war der Einfluss der Gewerkschaft praktisch auf Null reduziert. Die Belegschaft war daraufhin nahezu vollständig aus der Gewerkschaft ausgetreten und somit ein, wie die Chefetage genüsslich formulierte, „gewerkschaftsfreier Raum“ entstanden. Allerdings waren die öffentlichen Betriebe so ziemlich die letzten, die diesen Schritt unternommen hatten. Bereits seit 2016 hatten alle größeren Konzerne damit begonnen und die Welle zog sich dann durch alle Branchen, alle Industriezweige bis hin in den öffentlichen Dienst. Beim radikalen Abbau des Justizwesens hatten die Gewerkschaften schon überhaupt kein Mitspracherecht mehr.
Robert bedauerte diese Zustände und sehnte sich nach einer, wie er es nannte, Entkapitalisation. Vorerst fühlte er sich zurückversetzt in den von Karl Marx beschriebenen Imperialismus, als höchster Stufe des faulenden, absterbenden Kapitalismus.
„Heinel, Sie wissen, wie wir darüber denken. Wir haben hier für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Was draußen passiert, geht uns nichts an, aber hier drin ist es eine Art Existenzsicherung, unser Prinzip auch mit Härte durchzusetzen. Haben Sie Ersatz für ihn?“
„Nein. Bitte ziehen Sie in Betracht, wie gut es sich auf die Arbeitseinstellung auswirken würde, wenn wir Schubert nicht entlassen. Wir hätten einen Mitarbeiter mehr, der dem Betrieb zu hoher Dankbarkeit verpflichtet wäre und hoch motiviert weiter seine Arbeit macht. Außerdem gebietet mir das mein soziales Gewissen.“
Sein Chef lachte unsensibel und erwiderte: „Heinel, machen Sie mal ‘nen Punkt. Wir haben diesen Laden unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu führen. Sie gehören übrigens auch mit dazu. Sie wissen, dass Sie mir mit dem Sozialgedöns gestohlen bleiben können. Gehen wir mal praktisch an die Sache. Wie können wir die Situation für uns nutzen?“
Sein Chef war durchaus geneigt, von einer Kündigung abzusehen, wenn er irgendeinen Nutzen aus der misslichen Lage des Mitarbeiters ziehen konnte.
Er fuhr fort: „Ich stelle mir Folgendes vor: Sie verklickern ihm, dass er sechs Monate in Folge eine Woche umsonst arbeiten muss. Wenn er damit einverstanden ist, rufen Sie Ihr Team zusammen und teilen ihm diese arbeitnehmerfreundliche Lösung durch die Geschäftsleitung mit. Einverstanden?“
Roberts Chef hatte eigentlich einen ziemlich rabiaten Arbeitsstil gegenüber seinen Mitarbeitern, nur bei Robert verhielt er sich etwas weniger aggressiv, weil er von ihm eine hohe Meinung hatte. Allerdings erwähnte er das ihm gegenüber niemals. Auch musste sein Chef anerkennen, dass ihm ein außergewöhnlich starker Charakter gegenüber saß, der im Sinne der SE gute Arbeit leistete. Das wollte er auch künftig nutzen, und so nahm er sich Robert gegenüber immer etwas zurück – auch wenn es ihm schwer fiel.
Obwohl Robert damit schon gerechnet hatte, weil es einfach in Mode gekommen war, jeden möglichen Anlass zur Gehalts- oder Lohnkürzung zu nutzen, tat er erstaunt und geschockt: „Aber das sind insgesamt eineinhalb Monatslöhne, die wir ihm streichen. Das ist zu viel. Er hat keinen Cent übrig im Monat.“
„Kommen Sie, Sie bringen ihm das rüber. Es ist auf ein halbes Jahr verteilt. Er wird es verkraften. Und wir haben einen vernünftigen ökonomischen Aspekt in die Sache gebracht.“
Sein Chef war ein Schwein. Das war Robert klar. Wie weit würde das führen, wenn die Arbeitgeber dermaßen in die Privatbelange der Menschen eingriffen?
Robert sah ein, dass er in der Sache zustimmen musste. Wenigstens hatte er Schuberts Job erhalten. Das war auch etwas wert.
Er wollte das Gespräch nun schnell beenden und sagte: „Sie können sich denken, was ich davon halte. Also gut, ich regele das so. Aber eines Tages kommt das alles auf uns zurück. Ich bin mir sicher.“
„Heinel, Sie sind keiner von den alten Philosophen, die uns das Kapital erklären müssen. Bleiben Sie einfach weiter ordentlich bei der Stange und wir kommen gut miteinander aus. Nehmen Sie es doch nicht so persönlich!“
Robert stand auf und verabschiedete sich ordentlich. Sein Chef hatte seinen Willen durchgesetzt, aber deswegen war er ja auch in dieser Position.
In seinem eigenen kargen Büro ließ sich Robert in den Stuhl sinken, drehte sich zum Schreibtisch und stützte den Kopf in seine Hände. Er stöhnte leise und sagte vor sich hin: „Was ist nur aus unserer Gesellschaft geworden?“
In Gedanken schweifte er zurück in seine Kindheitserinnerungen. Felix und er hatten wie echte Brüder zusammen eine schöne Kindheit erlebt. Seitdem war in Roberts Leben und seinem Heimatland viel passiert. Die Systeme wechselten, die Menschen veränderten sich; das Leben allgemein hatte mit dem früheren nichts mehr gemeinsam. Seit einigen Jahren galt das Prinzip: Alle dürfen alles! Es hing ihm zum Halse heraus, dass sich nichts und niemand mehr um soziale Grundwerte scherte, sondern alle nur auf Kosten der Allgemeinheit ihren persönlichen Vorteil suchten und der Grundgedanke der meisten Leute lautete: ‚und nach mir die Sintflut‘. Mit diesen aus Roberts Sicht niederen gesellschaftlichen Grundideen ließe sich „kein Staat“ mehr machen. Kein Politiker und keine politische Vereinigung, keine Organisation und auch kein Einzelner vermochte es mehr, auf andere Mitmenschen positiv einzuwirken und mit eigenem Engagement etwas Positives für das Allgemeinwohl zu erreichen. Das wollte augenscheinlich niemand mehr. Die individuellen Probleme der Menschen gestalteten sich zunehmend und für eine immer größer werdende Bevölkerungsschicht Existenz bedrohender, als es in den 2010-er Jahren überhaupt vorstellbar war. Die wenigsten verfügten über finanzielle Rücklagen, seitdem der Euro gescheitert und die Nachfolgewährung DEuro eingeführt wurde. Dieser einschneidende Schritt hatte für die meisten bedeutet, dass sich das reale Einkommen um mehr als zwei Drittel verringerte. Die neuen Löhne und Gehälter wurden derart niedrig festgelegt, dass die sich herausbildende Preisstruktur einen brutalen Kaufkraftverlust zur Folge hatte. Noch 2014 dachte niemand, dass es möglich wäre, die Monatseinkommen auf ein Drittel zu reduzieren – bei gleichbleibendem Preisniveau. Die Einführung des DEuro und die damit verbundene erhebliche Aufwertung der neuen Währung jedoch brachte das damals schon nicht unproblematische soziale Gleichgewicht vollends ins Wanken. Die Einkommen verringerten sich im Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten dramatisch.
Und in der Folge verschlechterte sich auch der soziale Status des ganzen Landes drastisch. Früher geltende Werte und Normen wurden über Nacht auf den Kopf gestellt und über Bord geworfen. Die Jeder-gegen-jeden-Mentalität wurde zur neuen gesellschaftlichen Grundlage – praktisch zur Präambel des neuen Systems.
Damit konnte und wollte sich Robert nicht abfinden. In seinem Lebensumfeld versuchte er dieser Entwicklung entgegenzuwirken, das Leben auf kleinem Level wieder etwas lebenswerter zu gestalten. Als Rückschlag empfand er dabei die brutale Körperverletzung, die Paul und seine Kumpane der jungen Frau zugefügt hatten. Wenigstens wurden sie dafür halbwegs gerecht bestraft.
4. KAPITEL
Felix Dännicke war an diesem Morgen beim Verlassen seines Grundstückes in Blankeheide aufgeregt, aber in froher Erwartung auf seinen ersten spannenden Tag im Arbeitskreis Finanzkonsolidierung. Er konnte es kaum erwarten, seine Ideen darin einzubringen und dafür zu kämpfen, dass seine – und nur seine – Vorschläge in die Tat umgesetzt wurden. Seinen Boss Schuster hatte er bereits auf seiner Seite. Die übrigen Mitglieder des AK wollte er erst einmal in Ruhe kennenlernen, um sich dann auf eine bestimmte Strategie festzulegen, die ihn seinem Ziel näher brachte. Heute war in der nördlichen Elbestadt