2022 – Unser Land. Rainer Hampel
lückenlose Verkehrsüberwachung durch die Regierung beschlossen und in einer dreimonatigen Übergangszeit technisch in die Tat umgesetzt worden war. Grundelement dieser hundertprozentigen Überwachung wurde eine Blackbox, die jeder Fahrzeughalter auf eigene Kosten einbauen musste. Herstellung und Vertrieb liefen über den Staat. Zu dieser Box gehörten vier Minikameras, die nicht größer als eine Scheckkarte waren, über Funk ihre Bilder von allen Fahrzeugseiten an die Box sendeten und die einfach in die Fensterscheiben geklebt wurden. Die Box zeichnete damit jede Bewegung des Fahrzeuges optisch auf und speicherte dazu jeweils Datum, Uhrzeit, GPS-Daten und Geschwindigkeit. Die Zuordnung des Fahrers über sein persönliches ID wurde technisch noch nicht umgesetzt, war aber nur noch eine Frage von Monaten. Die Halterermittlung reichte vorerst für die Verfolgung von Verstößen vollkommen aus. Die gespeicherten Daten der Box wurden einmal im Monat über UMTS abgerufen und elektronisch ausgewertet. An zentraler Stelle liefen die Daten zusammen. Dort mussten dann lediglich noch Algorithmen die jeweiligen Geschwindigkeitsüberschreitungen oder Missachtungen von Verkehrszeichen erkennen, die jeweilige Ordnungswidrigkeit oder den Straftatbestand zuordnen und das dafür zu erhebende Strafgeld bestimmen. Das Geld wurde anschließend automatisch vom Konto des Fahrzeughalters abgebucht. Eine Überwachung der Verkehrsräume durch die Polizei wurde damit vollkommen überflüssig.
Das System arbeitete so zuverlässig, dass die Verkehrsverstöße in so hohem Maße zurückgingen, dass seitens des Staates die Strafmaße ständig erhöht werden mussten, um die kalkulierten Einnahmen sicherzustellen. Allein durch den Wegfall der Verkehrspolizei konnte die Regierung jährlich eine ganze Menge Geld einsparen. Verstöße gegen die Einbaupflicht für die Blackbox wurden mit Geldstrafen in Höhe von 30 Tagessätzen und der Stilllegung des betroffenen Fahrzeuges geahndet. Es funktionierte wirklich reibungslos und zielsicher. Ein angenehmer Nebeneffekt war, dass der Straßenverkehr erheblich an Sicherheit gewann, was andererseits auch mit dem Rückgang der Privatfahrten an sich zusammenhing. Die Republik wurde in dieser Hinsicht das sicherste Land der Welt – und das innerhalb von nur einem Jahr.
Auf Ritas Fahrweise übertragen bedeutete das für Felix, dass er die Verstöße seiner Frau über die Buchung des gemieteten Kleinbusses mittels seinem ID auch die Strafgelder verbucht bekam. Zudem hatte er zu Beginn dieses Überwachungsprogramms enormes Lehrgeld bezahlt; das verschwieg er immer häufiger. Die Abbuchungen am Monatsende waren teilweise eine krasse Belastung gewesen, waren hier doch Beträge von einem halben Monatseinkommen angefallen.
Er schloss das Thema mit den Worten ab: „Rita, das war das letzte Mal. Ich gehe nicht dafür arbeiten, damit du das Geld übers Gaspedal an den Staat zurückbuchst. Ich kürze dir dafür dein Taschengeld auf die Hälfte.“
Es war ihm egal, ob er gerade zu Heiligabend diese Maßnahme verkündete. In dieser Beziehung war er knochentrocken oder, was er lieber hörte, chemisch gereinigt.
Robert hatte inzwischen alles mit angehört und konnte nur den Kopf schütteln. Am liebsten hätte er beiden ordentlich seine Meinung gesagt und dabei mit Kritik nicht gespart. An Robert störte ihn, dass er in persönlichen Dingen diese Härte anwendete, und an Rita störte ihn, dass sie tatsächlich so dämlich Auto fuhr. Und das war so naiv, nachdem die gesamte Republik bezüglich des Fahrverhaltens einer Rosskur unterzogen worden war.
Robert beschloss, es dabei bewenden zu lassen und vielleicht später in besserer Stimmung mit seinem Bruder unter vier Augen zu reden.
Auch Doreen war wieder etwas gelöster, nachdem sich die beiden Streithähne beruhigt hatten. Während des Gesprächs hatte sie sich beflissentlich mit dem Bengel beschäftigt. Allerdings konnte sie dabei nicht auf normale Omaqualitäten bauen, dazu war das Verhältnis zwischen ihr und dem Enkel einfach zu flach und zu gelegentlich.
Am Abend fanden sich alle in Doreens Wohnzimmer ein, um den heiligen Abend zu begehen. Geschenke gab es nicht, mit Ausnahme eine selbstgestrickten Schals, den Doreen ihrem Sohn Robert schenkte; als Dankeschön für seine Unterstützung während ihrer Krankheit. Robert ging das nicht sehr nahe. Der erste und zweite Feiertag wurde in Monotonie verbracht, gutes Essen und kurze Spaziergänge in den Auwald wechselten sich ab. Die Abende widmeten stets alle gemeinsam einem langen Rommeespiel. Unterm Strich ging es bis zur Verabschiedung in den Abendstunden des zweiten Feiertages recht harmonisch zu. Leider geschah dies nur unter der Zurückhaltung der angestauten Emotionen zwischen Robert und Felix. Wenn es nur nach Felix gegangen wäre, hätte er seinen Teil des Streitpotenzials unterdrücken können; nicht aber sein Bruder Robert. Nach der Verabschiedung an der Wohnungstür begleitete Robert die drei noch bis vor die Haustür.
Kaum standen sie auf der Straße donnerte Robert schon los: „Felix, du bist aber auch ein unausstehlicher Kotzbrocken. Wie kannst du nur so herzlos mit deiner Familie umgehen? Was soll das?“
Der Angesprochene hatte mit diesem Vorwurf „in letzter Minute“ nicht mehr gerechnet und antwortete etwas unsortiert: „Robert, wie meinst du das? Hatten wir nicht zwei schöne Weihnachtstage? Mach doch nicht alles immer kaputt mit deinem engstirnigen Moralgedöns!“
Felix fühlte sich zu Unrecht angegriffen, war ihm doch solches Fehlverhalten, wie es ihm sein Bruder vorwarf, gar nicht bewusst.
Robert fluchte weiter: „Das sieht dir ähnlich. In deinem Politikclub ist so was wahrscheinlich in Ordnung. Hier geht’s aber um echte Menschen: deine Familie.“
Rita und der Bengel waren zu Beginn des Wortwechsels sofort in den Mietbus gestiegen und hatten die Türen wütend zugeschlagen. Auch ihnen ging die ewige Streiterei der beiden Brüder gewaltig gegen den Strich. Der Bengel hatte überhaupt keine Vorstellung und Ritas Oberflächlichkeit ließ ebenfalls nur wenig Selbsterkenntnis und damit Einsicht in die Perspektiven ihres Schwagers zu.
„Bruderherz“, versuchte Felix zu beschwichtigen, „was habe ich dir denn getan? Sei mal selbst nicht so krass an Weihnachten!“
„Hoffentlich, mein lieber Felix, wirst du nie eine wirklich verantwortungsvolle Funktion in unserem Land übernehmen. Davor würde mir grauen. Du bist einfach nicht fähig genug, die Ängste und Nöte deiner Mitmenschen zu analysieren, geschweige denn zu lenken und zu leiten.“
Felix war indessen richtig verärgert und bedauerte seinen Besuch in der ehemaligen Messestadt. Eigentlich verfluchte er jedes Jahr bei seiner Abreise diesen Umstand. Sollte sein Bruder doch in seinem kleinen Südvorstädtchen seine Revolution beginnen. Die Hackordnung in der Republik oder der Welt kratzte das nicht. Und Felix auch nicht. Trotzdem liebte er seinen Bruder und versuchte weiter, die Verärgerung etwas zu dämpfen.
„Robert, ich versichere dir, dass ich mich voll und ganz im Sinne unserer Bevölkerung im Rahmen meiner Möglichkeiten einsetze. Du weißt nur nicht, wie begrenzt diese Möglichkeiten sind. Glaubst du, ich kann einfach mal ’ne tolle Idee in die Tat umsetzen, als Gesetz vorschlagen? Und dann wird alles besser?“
Erneut dachte er an seine Aufgabe im Arbeitskreis, mit dem er auch am Folgetag wieder eine Zusammenkunft hatte. Eigentlich hatte er es sehr eilig, wollte er doch auch noch den Besuch im Gefängnis bei Paul bewerkstelligen.
„Ich glaube dir gar nichts. Obwohl du mein Bruder bist und wir eigentlich Vertrauen zueinander haben sollten. Los, macht euch nach Hause und grüß Paul. Aber eins sag ich dir, ich finde raus, was ihr zusammen besprochen habt. Lass bloß die Finger von ihm. Der soll seine Strafe absitzen und ein besserer Mensch werden. Hast du mich verstanden?“
Robert hatte sich wieder beruhigt, aber die Warnung bezüglich Paul wollte er noch loswerden.
Felix erwiderte: „Mach dir keine Gedanken darüber. Zumindest keine schlechten. Was denkst du eigentlich von mir? Bin ich in deinen Augen etwa nicht rechtschaffen?“
„Macht es gut und gute Heimfahrt, Felix.“
Er verabschiedete sich noch von Rita und dem Bengel und drückte zum Abschluss seinen Bruder lange.
Sie konnten nicht mit und nicht ohne einander.
6. KAPITEL
Der Alltag in der Jugendstrafanstalt Brassnitz begann um fünf Uhr. Die Gefangenen wurden von einem langen unerträglichen Alarmton geweckt. Fünf Minuten später klappten sich die