Ich geh stiften. Jörg Wolfram

Ich geh stiften - Jörg Wolfram


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für den Schuhwechsel, eine für mein Gefühl zu voluminöse Medizintasche mit diversen Pflastern, Kompressen, Salben und Cremes, mit Kanülen und Binden sowie Schmerztabletten und Antiallergikum. Des Weiteren verstaue ich hier das Wechsel an Unterhose, Strümpfe, Hemd und kurzer Hose, meine Fleecejacke, ein Handtuch, die notwendigen Hygieneartikel sowie eine wasserdichte Kiste mit den wichtigsten Papieren und Geldkarten, Feuerzeug sowie Nadel und Faden. Darüber hinaus verstaue ich noch eine kleine Tasche mit Handy und Powerbank, mit Stift und Ladekabel sowie 100 Euro Bargeld. Außen am Rucksack befestige ich meine Wanderstöcke, eine Allzwecktasse aus Aluminium sowie eine schön gestaltete Spendendose.

      Nachdem ich noch einige Telefonate mit meinen Eltern und Freunden geführt habe, mache ich mich an das Ausräumen des Kühlschrankes, der in den nächsten zwei Wochen ungeöffnet bleiben wird. Ich bereite mir ein Abendessen und packe meine Verpflegung für den morgigen Tag ein. Neben zwei Flaschen Wasser besteht diese aus Salami, drei Brötchen, zwei Äpfeln und einigen Schokoriegeln. Ein kleines Frühstück wird es morgen ganz früh geben, ein etwas größeres dann mit der Perle in Hamburg.

      Schließlich gieße ich in der ganzen Wohnung und auf der Dachterrasse sämtliche Pflanzen und hänge das iPad an die Ladestation. Dies ist auch lange Zeit Inhalt meiner Gedanken gewesen, immer ausreichende Akkuladung im Telefon und iPad zur Verfügung zu haben. Mit der Powerbank und dem Wissen, im zivilisierten Deutschland unterwegs zu sein und damit immer eine Steckdose in der Nähe zu haben, wähne ich mich auf der sicheren Seite und hoffe, nichts Gegenteiliges erfahren zu müssen.

      Um kurz nach 22:00 Uhr liege ich schließlich im Bett, stelle mir entgegen meiner Gewohnheit den Wecker auf 05:00 Uhr und gehe im Kopf nochmals alle wichtigen Details durch. Ich beschließe, an alles gedacht zu haben und schlafe dann auch bald ein.

       Abschied

       Freitag, 01. Juli 2016

       Zugfahrt Leipzig – Hamburg – Klanxbüll

      Der Wecker klingelt, wie soll es anders sein, pünktlich um 05:00 Uhr. Todmüde und wenig inspiriert trotte ich ins Bad. Das Rasieren lasse ich heute gleich weg, auf den einen Tag kommt es bei den vor mir liegenden rasurfreien Wochen ohnehin nicht an. Ich benutze zum letzten Mal die elektrische Zahnbürste, das Trocknen der Haare nach dem Duschen geht seit dem gestrigen Friseurbesuch ratz-fatz. 12 Millimeter Kurzhaarschnitt sollen mich windschnittig machen.

      Kurz vor halb sechs absolviere ich einen letzten Kontrollgang durch die Wohnung, erst im Februar haben wir diese bezogen und sind hier sehr schnell heimisch geworden. Mir ist bewusst, dass für die nächsten sechs Wochen ein Verzicht an gewisse Luxusgewohnheiten programmiert ist, und ich freue mich ehrlich darauf.

      Ich wuchte mir den Rucksack auf den Rücken, laufe die vier Etagen im Treppenhaus hinab, der Fahrstuhl bleibt unbenutzt. Die in der Nähe befindliche S-Bahnstation Leipzig-Stötteritz erreiche ich bei blauem Himmel und schon wärmender Sonne, laufe die wenigen Stufen hinauf zum Gleis und fühle die Last schon jetzt an meiner Rückseite. Was soll’s, ab zum Leipziger Hauptbahnhof. 20 Minuten später sitze ich im ICE in Richtung Hamburg-Altona. Die Klimaanlage funktioniert so gut, dass ich mir bald meine Fleecejacke raushole, die Wanderschuhe ausziehe und tatsächlich bis kurz nach Berlin nochmals einschlafe. Bis Hamburg döse ich vor mich hin, freue mich sehr auf das Wiedersehen mit meiner Perle, schau aus dem Fenster und denke einfach mal an gar nichts.

      Kurz vor zehn Uhr komme ich pünktlich in Hamburg an und nehme die Perle für einige Minuten in die Arme. Wir gehen zusammen mit ihrer Tochter zu einem Bahnhofsbäcker und gönnen uns ein für die nächsten Wochen letztes gemeinsames Frühstück. Unsere Gespräche sind von Erwartungen, Hoffnungen aber insbesondere bei ihr auch von einigen Ängsten geprägt. Die Perle ist ein sehr vorsichtiger, introvertierter Mensch, welcher die Dinge mehr mit sich selbst als mit Dritten ausmacht. Ich kenne sie jetzt aber lange genug, um ihre Gefühlswelt zu erahnen und spreche uns beiden Mut und Zuversicht zu. Nach einer Stunde stehen wir an meinem Anschlussgleis und umarmen und küssen uns zum Abschied. Ich wünsche ihr und ihrem Mauseschatz eine schöne, sonnige Ferienzeit und sie wünscht mir einen guten Weg.

      Die Regionalbahn nach Westerland ist gut gefüllt und scheint überwiegend junge Menschen auf die Insel Sylt zu befördern. Die Stimmung im Wagon tendiert zwischen Schlafen, Handyzocken und Geschnatter. Ich habe mir Chillout-Musik auf die Ohren gelegt, noch ist nicht die Zeit für die große Stille und Einsamkeit. Vielmehr bietet sich mir die Gelegenheit, zurückzublicken auf nahezu zwei Jahre der Planung und Vorbereitung meiner nun anstehenden Wanderung.

      Ich denke noch einmal an die Entstehung der Idee, an die ersten Überlegungen zur Streckenführung und an die Auswahl der Dinge, welche man auf einen sechswöchigen Weg mitnehmen sollte. Ich denke an die vielen Gespräche in der Familie, im Freundeskreis, beim Arbeitgeber und in den Ehrenämtern. Alles wollte wohl organisiert sein, denn mir war es wichtig, dass meine doch längere Abwesenheit zu keinen übermäßigen Belastungen bei den Zurückgebliebenen führt. Ganz besonders denke ich dabei an meine beiden Töchter Marlene und Hannah, welche ich vermissen werde. Aber auch an meine Frau Tanja, die nun die beiden „Pubertiere“ in alleiniger Obhut hat, zum Glück fällt meine Wanderung fast genau in die sächsische Ferienzeit.

      Meine Gedanken wandern auch zurück in den November 2015, als ich erstmals auf einer Veranstaltung bei der Kinderarche Sachsen für meine Wanderung und damit für Spenden warb. Hier machte ich auch mein erstes Projektfoto – und das ausgerechnet mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière, welcher Gast auf eben dieser Veranstaltung war. Im Laufe des Winters und des Frühjahrs nutzte ich weiterhin viele Gelegenheiten, um mein Projekt in die Öffentlichkeit zu tragen. Und das Ergebnis war schlichtweg großartig! Bereits 14 Tage vor meinem heutigen Reisestart waren nicht nur alle Kilometer „verkauft“, sondern es hatten sich Spendenzusagen von fast 11.000 Euro angesammelt. In meinen kühnsten Träumen hatte ich auf 10.000 Euro zum Abschluss meiner Wanderung gehofft, nunmehr lag die Summe schon deutlich darüber.

      Wie motivierend und beglückend dieses Ergebnis am Start der langen Wanderung für mich ist, kann ich gar nicht ausdrücken.

      Während meine Augen aus dem Fenster schweifen, sehe ich auch meine wirklich nicht befriedigende körperliche Vorbereitung an mir vorbeiziehen. Ende 2014 hatte ich mich in einen naheliegenden Fitnessclub angemeldet und tatsächlich ein- bis zweimal wöchentlich den Weg dorthin gefunden. Mein Programm bestand hauptsächlich aus simulierten Steigerungswanderungen auf dem Laufband sowie Muskelaufbautraining für Bauch und Rücken.

      An freien Tagen zog es mich bei schönem Wetter auch mal für Tageswanderungen in die Leipziger Umgebung, und auch meinen letzten Nordseeurlaub nutzte ich für längere Touren. Allerdings konnte ich ein solches Unterfangen nicht für eine Woche simulieren, dafür fehlte mir einfach die Zeit. Hinzu kam, dass ich in meiner Rolle als Mitglied des Gesamtbetriebsrates seit einem halben Jahr aufgrund intensiver Interessenausgleichsverhandlungen mehr in Frankfurt als in Leipzig und dazwischen Stammgast der Deutschen Bahn war. Auch hier bot sich wenig Gelegenheit, um gezielt im Ausdauerbereich zu arbeiten, sodass ich schon mit einigen Fragezeichen zu meiner sportlichen Fitness hier in der Regionalbahn sitze. Hinzu kommt die Tatsache, dass ich bis gestern 18:00 Uhr zu 100 Prozent und mehr unter engen zeitlichen Taktungen hauptsächlich geistig tätig war und mich ab heute Mittag einer körperlichen Belastung aussetze, deren Auswirkungen ich noch nicht absehen kann. Ich versuche, dies aber mit dem ganz guten Wissen um meine körperlichen und mentalen Fähigkeiten zu relativieren. Als ehemaliger Leistungssportler glaube ich, schon ausreichende Erfahrungen zu besitzen, um verantwortungsvoll mit mir auch in schwierigen Situationen auf meinem Weg umgehen zu können.

      Je näher ich dem Ziel meiner jetzigen Bahnfahrt komme, umso dunkler werden die Wolken am Himmel. Die Sonne hat sich schon kurz hinter Hamburg verkrochen, erste Regentropfen klatschen an die Fensterscheibe. Mir wird nun mit aller Deutlichkeit bewusst, dass aus meinem bisher nur theoretischen Projekt eine praktische Wanderung, das aus dem gedachten Traum nun Realität werden wird. Und dass ich aufgrund der für die Spendensammlung notwendigerweise gesuchten Öffentlichkeit jetzt auch nicht mehr zurückkann. Ich habe mich selbst unter einen gewissen Erfolgsdruck gesetzt. Dieser Gedanke ist nicht neu und so habe ich mir zum Jahreswechsel 2015/2016 nur einen Satz als „Vorhaben“ auferlegt. Dieser lautet: „Du darfst auch scheitern können!“


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